Sieben Monate blieben mir also noch, um die Manifestation meiner Vision voranzutreiben.
Zunächst musste ich meinen Zivildienst zu Ende bringen, d. h. die letzten Verstorbenen beerdigen, die letzten Nutzungsberechtigten der Grabstätten erfassen, die letzten Bestattungsgebührenbescheide herausschicken, die letzten Grabfeldzeichungen aktualisieren und die letzte Grabpflegekontrolle vor Ort vornehmen.
Ich weiß nicht, warum Leute grundsätzlich amüsiert sind, wenn sie erfahren, dass meine Tätigkeit darin bestand, Friedhöfe zu verwalten. Es war ein guter Job. Zumal der Tod schon immer eine starke Faszination auf mich ausgeübt hatte…
* * *
„Wenn ich vor dir sterbe“, so sagte ich zu meiner kleinen Schwester, „dann sorgst du dafür, dass Schnuckie mit zu mir in den Sarg gelegt wird, ja? Versprichst du mir das?“ Sie willigte ein, und ich war zufrieden, hatte ich doch dann wenigstens etwas, das mir nach meinem Tod gewiss war, etwas, zu dem ich nach meinem Tod eine Beziehung haben würde, und ich rechnete mir aus, dass mein Schmusetier mich in Anbetracht unserer unterschiedlichen Verfallszeit sogar noch überdauern würde.
Als Kind machte ich mir viele derartige Gedanken. Oftmals lag ich wach im Bett und zermarterte mir das Hirn, wollte begreifen, was das Leben ist und wozu es eigentlich Sinn macht, wenn es letztendlich doch dem unausweichlichen Gesetz des Untergangs und Vergessens unterlag. Im Vergleich zur Ewigkeit, so machte ich mir klar, war meine Lebensspanne ein winziger Strich auf einer unendlich langen Linie. Aber wo war ICH bloß vor und hinter dieser Strecke, die meine Existenz abgrenzte? Einfach weg? Ich versuchte, mir die Welt ohne mich auszumalen und zu erspüren, wie sich das anfühlt, nicht existent zu sein, nichts zu sein. Doch all mein Bemühen scheiterte. Ich konnte es nicht. Ich war dazu einfach nicht in der Lage.
Verzweifelt drückte ich mein Gesicht in meinen Teddy, der neben mir lag und nun für mich da war, um all meine Tränen aufzusaugen…
War ich wie ein Gespenst buchstäblich aus dem Nichts aufgetaucht, um dann wieder dahin zu verschwinden? Nun, ein Gespenst, soviel wusste ich, würde aber nicht zu Nichts werden, sondern ein Gespenst bleiben, es wäre nur unsichtbar für die Augen der Menschen. Also vielleicht würde ich ja auch unsichtbar werden… Doch was wäre, wenn Gespenster eine Illusion wären und sie gar nicht wirklich existierten? Das hieße, es gäbe mich auch nicht wirklich… Aber ich bin doch! Wie kann ich dann nicht sein?
Mit anderen Worten: Wie kann das Ich, das ist, zum Ich werden, das war, wenn dann kein Ich mehr da wäre, das gewesen sein könnte?
Also, entweder ich bin selbst die irrwitzigste Täuschung, die mir je über den Weg gelaufen ist, oder die Zeit ist ein einziger großer Irrtum. Nun, in beiden Fällen hätte ich mir um meine Vergänglichkeit keine Sorgen mehr zu machen brauchen!
Mein Religionslehrer kannte sich auf dem Gebiet besser aus:
Es gibt Dimensionen, so erzählte er, die können wir nicht begreifen. Aber das bedeutet noch lange nicht, dass sie nicht existieren. Kennt ihr die Geschichte von den 2D-chen und den 3D-chen?
Nun, wie ihr Name schon sagt, leben die 2D-chen in einer Welt, die nur aus Länge und Breite besteht. Und die 3D-chen in einer Welt, wie wir sie kennen.
Vor langer, langer Zeit lebten sie in Frieden miteinander. Doch irgendwann begannen die 2D-chen ihre Welt zu erforschen, und auf einmal stießen sie auf Dinge, die sie nicht erklären konnten. Da gab es eine merkwürdige Art, die hatte eine Länge und eine Breite, genau wie sie, doch man konnte mit ihr nicht kommunizieren. Einige Wissenschaftler unter den 2D-chen beabsichtigten, der Sache auf den zu Grund gehen. Sie wollten eins dieser sonderbaren Objekte näher untersuchen, und damit es ihnen nicht davonlief, zogen sie einen dicken, ausbruchsicheren Kreis um es herum. Doch plötzlich, innerhalb eines Augenblicks, war es vor ihren Augen verschwunden. Sie waren fassungslos, liefen verstört umher und riefen: „Ein Wunder! Ein Wunder!…“ Sie wussten nicht, dass sie auf ein 3D-chen gestoßen waren; denn sie kannten die Dimension der Höhe nicht.
Die 3D-chen hingegen machten sich nicht so viele Gedanken um die 2D-chen; denn diese waren ihre Schatten. –
Ich hatte so eine vage Ahnung von dem, was mein Lehrer sagte; denn ich hatte einmal diesen merkwürdigen Traum gehabt…
11.9.1981
Ich bin gestorben. Hinter dem Haus meiner Familie befindet sich ein rechteckig angelegtes Rasenstück. In der Mitte steht eine Schaukel. Hierauf sitzt mein toter Körper. Der Kopf hängt schlaff nach vorne hinunter, und die Arme sind an den blauen Seilen der Schaukel festgebunden.
Es ist Freitag. Bis Montag muss die Leiche dort hängen bleiben, da am Wochenende keine Beerdigungen durchgeführt werden. Ich selbst beobachte die Szene etwa 3-5 m von der Schaukel entfernt und sehe meinen leblosen Körper von hinten, wobei mich ein unheimlicher, kühler Windhauch erfasst.
Szenenwechsel: Ich lebe wieder! Ich weiß nicht warum, aber ich bin wiederauferstanden. Mama und Karl-Heinz (ihr damaliger Lebensgefährte) sind überglücklich, mich wiederzuhaben. Wir sind jetzt im Urlaub und gehen bei heiterem Sonnenschein eine schnurgerade Straße entlang, die auf beiden Seiten von kleinen Geschäften und Marktständen gesäumt ist. Südländisches Flair.
Plötzlich kommen wir an einem Höhleneingang vorbei. Er liegt links von uns, und ich weiß, dass dort eine Hexe wohnt, eine Frau mit übersinnlichen Fähigkeiten. Ich empfinde den Ort als sehr geheimnisvoll, und mich schaudert, als wir ihn passieren. Hat sie vielleicht mit meiner Wiedererweckung zu tun?
Wir drei setzen uns draußen vor einer Getränkebar auf Barhockern an einen hohen, schmalen, runden Tisch, um eine Erfrischung zu uns zu nehmen. Weil meine Eltern sich so sehr freuen, dass ich lebe, darf ich zur Feier des Tages sogar eine Cola trinken.
Ich fühle, dass ich etwas ganz besonderes bin, auf irgendeine Art heilig, durchdrungen von einer Magie. Ich empfinde es als sehr aufregend, von den Toten auferstanden zu sein. Es ist so ein sonderbares, übernatürlich prickelndes Gefühl…
Ich wachte auf. Die außergewöhnliche Energie in mir blieb. Mir war klar, dass ich gerade ein mystisches Erlebnis gehabt hatte. Ich kam mir wie verwandelt vor, geradezu verzaubert. Ich spürte, dass dies ein ganz wichtiger Tag in meinem Leben war. Ich stand auf, um nach meiner Uhr zu sehen, die auf dem Schreibtisch lag. Es war 5.00 Uhr. Janine schlief noch neben mir in ihrem Bett, und bis Mama uns zur Schule weckte, konnte ich noch liegen bleiben.
Auch nach dem Aufstehen vibrierte dieser überirdische Schauder noch in meinen Zellen. Jeden Schritt, den ich auf dem Weg zum Bad machte, setzte ich ganz bewusst. Eine Tür öffnete ich, indem ich ganz langsam mit der Hand um die Klinke griff, die Augen schloss, das Metall an meiner Haut erspürte, einmal tief durchatmete und ganz bedacht den Türriegel betätigte. Ich verhielt mich so, als wäre die kleinste Bewegung und jede Berührung etwas vollkommen Einmaliges und das Leben auf dieser Welt das kostbarste Geschenk. –
Und auf diese Weise war das innere Wissen in mir geweckt worden, dass mit dem Tod meine Identität nicht aufhören würde zu existieren.