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Selbstreflexion

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In der ersten Sitzung hatte ich mich also mit meinem verlorenen Inneren Kind wiedervereinigt, dem ursprünglichen Teil meines Wesens, der spielerisch durch die Welt zieht, voller Ehrfurcht und Staunen Dinge entdeckt und mit intuitiver Weisheit und Spontaneität seinen Weg findet.

Einem Kind sind Zweifel, Unsicherheit, Vorurteile und Selbstkontrolle fremd. – ‘Ich hab’s dir doch gesagt, damit kann man zaubern!’ hatte mir der kleine Knirps während meiner inneren Bilderschau zurückgegeben, als wäre das das Natürlichste von der Welt.

Vielleicht war der Mensch tatsächlich ursprünglich fähig gewesen, so genannte “Wunder” zu vollbringen, dachte ich und sah dabei im Geiste Yogis levitieren, Adepten über Feuer laufen, Uri Geller telekinetisch Löffel verknoten und Jesus auf dem See Genezareth umherwandeln.

Mir schien das Zaubern jedoch gründlich ausgetrieben worden zu sein. Im Alter von 1 bis 2 Jahren, so deutete mir Rudolf meine Bilder, hatte ich meinen Zauberstein verloren. Als ich ihn nun zurückbekommen hatte, sei er mir anfangs noch sehr fremd (rau) gewesen, dann aber wieder vertraut (glatt) geworden. Aber was war die Bedeutung dieser Botschaft über jenes mächtige Werkzeug, das ich da in mir verborgen hielt?

Ich versuchte, zu verstehen: Mein Inneres Kind sagte, ich besäße einen Stein, mit dem ich zaubern könnte.

Anders ausgedrückt: Eine wissende Stimme aus meiner Kindheit machte mir bewusst, ich besäße die Macht, jedwede Dinge zu erschaffen, die ich mir wünschte, und das Vermögen, mir meine eigene Welt zu kreieren, von der ich träumte.

Ich verstand, dass das die Macht ist, nach der die Menschen überall auf der Welt streben, aber niemals finden, solange sie sie außerhalb ihrer selbst suchen, in Anerkennung und Ansehen, Geld und Besitz, Kontrolle und Herrschaft, und unerbittlich dafür kämpfen…

Gewiss sehnte ich mich nach einer besseren Welt ohne Gewalt und Krieg, aber sollte ich dafür verantwortlich sein? Durch mein Bedürfnis nach Anerkennung? Durch das Anhäufen von Eigentum? Durch mein Verlangen, alle Dinge unter Kontrolle zu haben?

Wie groß waren meine Träume, die Welt verändern zu wollen? War ich überhaupt bereit, mich selbst zur Verantwortung zu ziehen? Oder hatte mich bereits die grassierende Seuche erfasst? Die psychische Seuche, die “Resignation” heißt, das starre Gefühl, Opfer der äußeren Umstände zu sein, ausgeliefert zu sein und machtlos…

Träume halten zu sehr vom Leben ab, lernt man, sobald die Kinderschuhe nicht mehr passen. Wünsche müssen von ihrem Selbstverständnis her im rationalen Rahmen bleiben. Idealisten ernten zumeist ein mitleidiges Lächeln für ihre liebliche Naivität. Und hoffnungslose Träumer wie John Lennon sind ja für ihr tragisches Schicksal bekannt!

Die lebensbejahenden Eigenschaften des Kindes sind in der Welt des Erwachsenen offenbar unerwünscht, und so hatte auch ich sie durch Errichtung einer Mauer von mir ferngehalten.

Das Leben ist hart. Das ist so.

Da kann man nichts machen.

Darum kann nur der Stärkere überleben.

Das ist Naturgesetz. Da muss man sich fügen.

Die Gesetze der Konsum- und Leistungsgesellschaft motivierten einen nach Selbstentfaltung strebenden Nachkömmling wie mich nicht gerade, sich in ihr einen anerkannten Platz zu ereifern. Die Spielregeln erschienen mir schlichtweg unattraktiv:

Wenn ich mit äußerem (Geld, Besitz) und innerem (Selbstwert, Anerkennung) Reichtum belohnt werden will, muss ich kämpfen, mich abmühen, ständig unter Strom stehen und alle anderen Mitstreiter übertrumpfen. So werden „dynamische Erfolgsmenschen“ geboren.

Dieser Idealmensch jedoch erschien mir wie eine „Pappfigur“, die bloße Konzeption einer makellosen Gestalt, die am laufenden Band durch die Medien ins Unterbewusstsein der Bevölkerung eingeschleust wird. Offensichtlich mit Erfolg; denn überall konnte ich beobachten, wie Menschen ihr Bestes geben, um diesem Orientierungsmaß nachzukommen. Gleichzeitig erkannte ich aber hinter ihrer lässigen Fassade den Kampf und die Verzweiflung, die die Nachahmung dieses gesichtslosen Vorbildes hervorruft.

Bereits während der Schulausbildung hatte ich selbst erfahren, was es heißt, unter den Bedingungen ständigen Drucks – dem Dampfmaschinenprinzip gleich – zu lernen und Leistung zu erbringen. Eine freie Entwicklung meiner wachsenden Persönlichkeit schien nicht vorgesehen zu sein. Sollten nun meine zahlreichen, individuellen Talente, Interessen und Fertigkeiten, die ans Licht strebten, unter einen Scheffel geraten?

  • Ich wollte Schauspieler werden und Filmemacher, wie mein großes Vorbild Charles Spencer Chaplin. Ich hatte sogar schon ein Drehbuch zu einem Film verfasst, an dem all meine Klassenkameraden teilnehmen sollten.
  • Auch wollte ich Rocksänger werden. Mit sechs Jahren begann ich, das Mikro meines Kassettenrekorders zu strapazieren, dann packte mich die Neue Deutsche Welle, holte den Songwriter aus mir hervor, und ich gründete mit meiner Schwester und meinem Cousin eine Band namens SEP.
  • Ich wollte Astronaut werden, weil ich alles über die Planeten und die vielen kleinen Monde um sie herum erfahren wollte. Die Wand an meinem Bett war mit Sondenaufnahmen von unserem Sonnensystem übersät.
  • Ich wollte Erfinder werden, weil ich maßgeblich an der Entwicklung der Zeitmaschine beteiligt sein wollte. Ich pflückte mit Vorliebe alte Elektrogeräte auseinander und ließ mich von den Einzelteilen zu grandiosen Entdeckungen in fernen Welten inspirieren.
  • Ich wollte Psychologe werden, weil mich das Unsichtbare mehr faszinierte als das Offensichtliche. Als Anlaufstelle für Probleme meiner Mitschüler schien ich auch auserkoren zu sein.
  • Ich wollte Entwicklungshelfer werden, weil ich Menschen in Not etwas zu geben hatte.

Doch was war ich? – Ein zappeliger, überdrehter, aufmüpfiger, rücksichtsloser und gleichzeitig scheuer, verklemmter, eingeschüchterter, verängstigter Heranwachsender ohne Zukunftsperspektive.

Wie viele Begabungen werden zurückgehalten, weil sie ungewollt sind?

Wie viele Talente gehen der Welt dadurch verloren, dass niemand nach ihnen fragt?

Warum müssen lebendige Kinderträume, große bunte Luftballons, lautlos in einer menschenleeren Maschinenhalle zerplatzen?…

„Erkenne dich selbst“ hieß die Inschrift am Orakeltempel des Apollon von Delphi und gab damit allen Sinnsuchenden einen Leitsatz für das Leben mit auf den Weg. Seine Gültigkeit scheint fast vollständig in die Verdrängung geraten zu sein. Staubige Geschichte, die längst überholt ist?

Wenn der moderne Mensch sich wie einst der Alte Grieche ernsthaft fragen würde, ob er sich selbst in seinen Handlungen wiedererkennt und ob seine Arbeit, die die meiste Zeit seines Lebens ausmacht, auch seinem innersten Wesen entspricht, würde er nicht feststellen, dass in ihm ein leiser, aber immer wieder ins Bewusstsein vordringender Wunsch nach einem ganz anderen Leben steckt? Wahrscheinlich schenkt er diesem bloß aus Gewohnheit keine Aufmerksamkeit, weil er seiner Realisierung keine Chance einräumt. – Viel zu riskant! Der Stempel ist schnell vergeben. Wozu sich die Mühe machen, wenn man schließlich erkennt, dass man tut, was man gar nicht will, daran aber vermeintlich nichts ändern kann?

Diktatoren und Despoten zu bekämpfen, erscheint um vieles leichter als die verhüllte Macht des unpersonifizierten Geldgottes überhaupt wahrzunehmen.

Mir war klar: Ich wollte mein Leben nicht dem Geld und dem ihm inhärenten Wachstumszwang zum Opfer vorwerfen und rackern und schuften für eine Zukunft, die ich nicht kannte, zumal ich täglich im Heute aufwachte und nicht durch einen plötzlichen Zeitsprung in irgend einer Zukunft! – Bis heute jedenfalls nicht.

Natürlich wollte ich mit meinem Leben erfolgreich etwas erreichen und verantwortungsvoll einen Beitrag zum Wohle der Gemeinschaft leisten, mich darum aber der Arbeitsmaschinerie unterwerfen, meine persönliche Entfaltung radikal einschränken und gegen auftretende körperlich-seelische Signale der Unlust, Müdigkeit, Frustration und Krankheitsanfälligkeit ankämpfen zu müssen, empfand ich als Irrsinn – „Junge, nun beiß aber mal die Zähne zusammen!“

Achtungs- und respektlos mir selbst und meinen Bedürfnissen gegenüber zu handeln, mir meine Wünsche und Impulse zu untersagen, meine Träume zu verbieten, aufsteigende Wut hinunterzuwürgen und mich zu oftmals stumpfsinniger und möglichst unübertroffener Leistung zu zwingen, widersprach gänzlich meinem Lebensgefühl. Und all dies nur, damit der Kontoauszugsdrucker am Monatsende möglichst vielstellige Zahlen ausspuckt, mit denen ich dann verbissen versuchen kann, mich selbst zu entschädigen, indem ich maßlos dem Konsum fröne! – „Denn man gönnt sich ja sonst nichts.“

Natürlich muss der Genuss schnell sein, denn viel Zeit hat man nicht. Und bombastisch muss er sein, denn nur wenn viel nachgefragt wird, kann auch viel Geld verdient werden…

Der Ketzer in mir ist erwacht:

Die Gläubigen sagen: ‚Das Geld, das wir uns erarbeiten, können wir zu unserer Selbstentfaltung benutzen.’ Ich aber frage mich: Klaffen der Weg und das Ziel dabei nicht gänzlich unvereinbar auseinander?

Wie kann der Würde des Menschen, die oberstes Ziel der staatlichen Ordnung ist, die Lebenszeit und Lebenskraft des Menschen geopfert werden, wenn dann nichts mehr vom Menschen übrig ist, der die Würde genießen könnte?

Was ist aus der freien Entfaltung der Persönlichkeit, der heroischen Forderung der Amerikanischen Unabhängigkeitserklärung und der Französischen Revolution geworden?

Ein Aufruf zur Aufblähung des Egos? Zur Möchte-gern-so-tun-als-ob-mehr-Schein-als-Sein-Verpackungsglitzer-Fassadenprotzer-Gesellschaft? Zu berufungsenthobener Erwerbstätigkeit und neurotischem Konsum? Zu technokratischem Machbarkeitswahn? Zu Maskenhaftigkeit sozialer Anpassung?…

Das Gesellschaftsbild, das sich mir als Heranwachsender bot, war traurig:

  • Geld vor Mensch: Der Staatsapparat wird durch die Spielregeln des Geldes bestimmt und durch Medienkontrolle und soziale Kontrolle aufrechterhalten.
  • Selbstentschädigung statt Selbstentfaltung: Der Mensch darf die meiste Zeit seines Lebens nicht sein, wer er eigentlich ist.
  • Selbstbeherrschung statt Selbstverantwortung: Der Mensch wird erst gesellschaftsfähig, indem er seine eigene lebendige Energie verdrängt und unterdrückt.
  • Energieverschwendung statt Energienutzung: Die aufgestauten Kräfte führen zu heftigen Entladungen, die in zwei Richtungen losgehen können.
  1. nach außen: Gewalt, Verbrechen
  2. nach innen: Suchtverhalten, Krankheit, Liebesunfähigkeit, Empfindungslosigkeit

Da Punkt 1 unter schwerer Strafe steht, erhält Punkt 2 eine starke Förderung.

Damit werden Alkohol und Nikotin zum Lebensinhalt, Mediziner zu Göttern, Beziehungen zur Hölle und Teilnahmslosigkeit zur Philosophie.

Aber die Gläubigen sagen: ‚Man tut was man kann. Man muss immer realistisch bleiben.’…

Realistisch? Realistisch ist, soviel hatte ich nun gelernt, was ich Realität werden lasse, und meine Realität sollte das jedenfalls nicht sein.

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