Erwartungsvoll lag ich am darauffolgenden Tag wieder nackt unter dem Leinenlaken auf dem Behandlungstisch. Konzentration auf den Atem und sein regelmäßiges Strömen in die Nase… in den Hals… in die Brust… in den Bauch… Lösen aller Spannungen. Während ich der Kraft zwischen Ausatmen und Einatmen, zwischen Nehmen und Geben, die volle Aufmerksamkeit schenkte, behandelten Rudolfs Hände mit sanftem Druck einige Reizpunkte auf meinen Akupunkturleitbahnen an Schultern, Kopf, Ohren und Nacken.
Mein Herz klopfte noch aufgeregt, während sich mein übriger Körper längst entspannt hatte. Rudolfs ruhige Stimme leitete mich langsam in einen meditativen Zustand, bis sie mir mit einem Ton von Selbstverständlichkeit auftrug, meinen Verstand fortzuschicken und mir vorzustellen, wie er unter einem Baum liegt und Ferien macht…
Was sollte denn das bedeuten? Mein Verstand, der die Vorgänge bislang mit offener Neugierde verfolgt hatte, wurde hellhörig. Ein verordneter Sonderurlaub? Darauf wollte er sich nicht einlassen. Das Steuer aus der Hand geben? Woher sollte soviel blindes Vertrauen kommen? Die Tatsache, dass er unerwünscht war, bewirkte vielmehr das Gegenteil. Er kam sich wie ein ungebetener Gastgeber vor und beobachtete nun mit Misstrauen die weiteren Geschehnisse.
Auf Geheiß öffnete ich mein Herzzentrum, ließ weißes, kosmisches Licht hineinströmen, bis ich es selbst ausstrahlte und stellte auf diese Weise die Verbindung zu meinem Größeren Selbst her.
Die Bücher hatten mich bereits gelehrt, dass das Größere Selbst (auch die „Stimme des Herzens“ genannt) als liebevoller und weiser Vermittler zwischen dem göttlichen Sein (meines kosmischen Ursprungs) und dem göttlichen Werden (meiner irdischen Persönlichkeit) anzusehen ist und als leitende Instanz dieser Sitzungen fungiert, die alle Umstände und Zusammenhänge meines Lebens zu überschauen vermag.
Mit der Bitte, mir ein Leben zu zeigen, das für mich zu jenem Zeitpunkt am wichtigsten sei, nahm die zweite Session ihren Lauf:
Die Sonne scheint, es ist angenehm warm. Meine in braunen Lederschuhen steckenden Füße führen mich einen steinigen Feldweg entlang. Am Wegesrand lachen mir gelbe Köpfchen mit rosafarbenen Kränzchen zu. Sie passen zu dem bunten Kleid, das ich trage. Meine langen, dunklen Haare wehen im Sommerwind, und goldglitzernde Ohrringe schmücken mein hübsches Gesicht. Ich halte einen Korb in der Hand, der bis zum Rand mit frischen Früchten gefüllt ist.
Ich erreiche die ersten Häuser des Dorfes. In einem der kleinen, weißen Lehmbauten bin ich zu Hause. Durch zwei Fenster fällt von draußen das Licht hinein, das die staubige, trockene Luft im Innern sichtbar macht. Ich setze mich auf mein hölzernes Bett. Über mir sitzt ein Vogel in rotem Federkleid, der sich mit seinem langen Schnabel zu mir hinunterbeugt. Ich warte auf meinen Freund.
Bald kehrt er von seiner Arbeit auf dem Feld zurück. Er trägt eine Kappe auf dem Kopf, Arbeitsgeräte in der rechten Hand, und an der linken führt er einen struppigen, kleinen Hund an der Leine. Ich empfange ihn vor unserem Haus mit einer Umarmung und folge ihm in die Stube. Ich habe das Essen zubereitet und tische uns in Tongefäßen ein Fleischgericht auf.
Er sagt, er wolle ein Kind von mir. Ich bin zwar eine Frau von 20 Jahren, doch mache ich ihm klar, dass ich noch kein Kind bekommen möchte. In einem Wutanfall steht er auf, schiebt seinen Stuhl beiseite und geht davon. Ich werde ihn nicht wiedersehen. Nur der Hund bleibt bei mir zurück. –
Sechs Jahre später.
Ich bin glücklich, ihn herbeireiten zu sehen. Er steigt von seinem edlen Pferd und nimmt mich in seine kräftigen Arme. Das lange, rote Kleid, das ich trage, kann meinen runden Bauch nicht mehr verbergen. Er streichelt ihn sanft und flüstert, er freue sich darauf.
Ein Jahr zuvor.
Ein großer Ball in der Stadt. Ein heller, prunkvoller Saal, fröhliche Musik, ausgelassen tanzende Menschen, und ich bin lachend mitten unter ihnen. Ich gefalle mir in meinem weißen Kleid, und ich halte sehr viel von dem Mann mit dem Schnurrbart. Hand in Hand verlassen wir das Tanzparkett und setzen uns außer Atem an einen Tisch. Während wir Wein aus Silberbechern trinken, plauschen wir vergnügt miteinander und schmiegen uns aneinander. Höflich lädt er mich zu sich nach Hause ein. Ich möchte zwar noch ein Weilchen bleiben, doch als er aufsteht und mich mit lebhaften Augen mit sich zieht, willige ich ein.
Zu zweit auf seinem Fuchs reiten wir durch die Nacht hinaus in die Wälder. Das Zelt der Gestirne spannt sich leuchtend über uns. Schneller und Schneller galoppieren wir über das Land. Meine Haare wirbeln ungestüm im Wind. In einem ekstatischen Tanz steigen unsere Körper in den Himmel hinauf, um dann wieder auf die Erde niederzukommen. Ich bin voller Leben. Ich bin voller Lust. Und FREI…
Fünf Jahre später.
Ich knie mit zusammengebundenem Haar auf dem Boden. Mein kleiner Sohn bereitet mir viel Freude und gibt mir die Kraft, die Einsamkeit zu ertragen. Er hüpft lachend umher und läuft freudig in die offenen Arme meines Bruders. Er besucht mich des Öfteren, um mir ein wenig zur Seite zu stehen. Mein Mann lebt in der Stadt. Ich vermute, er hat dort eine Andere.
25 Jahre später.
Ich bin gestorben. Mein Sohn kniet neben dem Bett. Er ist verheiratet, ich hoffe, dass er glücklich wird. Er hält die Hand einer weißhaarigen, gramgebeugten Frau, während ich hinter ihm im Raum stehe. Plötzlich werde ich ganz leicht und schwebe wie ein Ballon empor, immer höher und höher hinauf, bis ich die Anwesenheit meiner Familie spüre. Ich werde gerufen. Ich komme nach Hause. Ich bin nicht allein!
* * *
Lange Zeit hatte ich geglaubt, dass die Szenen, die sich mir hier in Form einer inneren, interaktiven Kinovorstellung zeigten, Ausschnitte aus den anderen, zahlreichen Leben meiner Geistseele seien, die sich tatsächlich auf physischer Ebene ereignet hätten. Der Terminus “Multiinkarnationssessions”, mit dem der Therapeut seinen Arbeitsbereich überschreibt, lässt gleichsam den Schluss zu, dass es sich um Sitzungen handelt, die die “vielfache Fleischwerdung” beinhalten. Doch letztendlich weiß ein Therapeut nicht, was sich während einer solchen Sitzung eigentlich abspielt.
Zunächst muss berücksichtigt werden, dass in dem entspannten Zustand, in den er seinen Klienten führt, sämtliche Informationen durch das aktive Bewusstsein des Wahrnehmenden gelangen und daher von vornherein gefiltert werden. Alle Bilder sind also von gegenwärtigen Einstellungen, Welt-, Wert- und Moralvorstellungen gefärbt.
Ungewiss ist außerdem die Zugangsebene, von welcher die Informationen stammen:
- Es kann sich um freie Assoziationen handeln, die aus dem Unbewussten ins Bewusstsein treten; Freud dienten sie zur Psychoanalyse.
- Es können tatsächliche Körpererinnerungen sein, die auf zellulärer Ebene wiederbelebt werden; sie können dem jetzigen Leben, aber auch anderen Inkarnationen entstammen.
- Es kann ein traumähnliches Erleben auf astraler Ebene stattfinden, voller bedeutungsträchtiger, individueller Symbolik.
- Es kann sich um einen Einblick in die unerschöpfliche Chronik des kollektiven Unbewussten handeln, also in das “Weltengedächtnis”, in dem jedes Ereignis, vom Entstehen eines Einzellers bis zum Vergehen eines Sterns, gespeichert ist.
- Es kann ein Eintauchen in einen Bereich sein, in dem die Imagination ihre Schöpfungen über eine ätherische Probebühne laufen lässt. Sie ist die Welt der Wahrscheinlichkeiten und Möglichkeiten, Quantenpotentiale und Morphogenese.
Die Grenzen all dieser Ebenen sind fließend. Auf welche der Betreffende nun aber gelangt, hängt nicht nur von der Tiefe der Trance ab, die er erreicht, sondern auch von seiner körperlichen Verfassung, dem Grad, sich öffnen zu können, seinen Erwartungen und Glaubenssätzen, möglicherweise sogar von seinen Ernährungsgewohnheiten, der Beschaffenheit und Geschichte des Ortes, an dem er sich befindet, dem Stand der Fix- und Wandelsterne und so weiter…
Welche Bedeutung lag demzufolge in den Sessions? Hatte diese Therapie überhaupt einen Nutzen?
Ich war in Aufruhr, und in mir herrschte große Verwirrung. Immer wieder war ich gewillt, meine inneren Wahrnehmungen als reine Phantasiegeschichten abzutun, bestenfalls als fiktive Ausgeburten eines kreativen Geistes.
Wenn da nicht meine feste Überzeugung gewesen wäre: Zufall existiert nicht! Sie ließ mich immer wieder fragen, welche Bedeutung wohl in jenen Situationen, Ereignissen und Handlungen verborgen liegen mochte, die vor meinem inneren Auge aufgetaucht waren. Worin lag der Sinn, dass mir ausgerechnet diese in den Sinn kamen und nicht irgendwelche anderen, unendlich denkbaren?
Ich kam zu der Ansicht, dass ich aus ihnen gewiss keine für jedermann gültige Aussage ableiten kann, sondern alle Aussagen nur in bezug auf mich selbst verstehen darf, und auch umgekehrt niemand außer mir selbst vermag, ihre Bedeutung zu entschlüsseln.
Gleichsam hielt ich es für naheliegend, dass bei den Sitzungen Themen auftauchen, die für den Betreffenden zum gegebenen Zeitpunkt von Wichtigkeit sind, die er sich möglicherweise aber nicht eingestehen will und die darum nicht zur Sprache kommen, obwohl sie ihm auf der Seele lasten. So bietet sich ihm bei den Sitzungen die Möglichkeit, sein Gesicht zu wahren, indem er seine brisanten Themen in Bilder projiziert und innere Szenarien erschafft, zu denen augenscheinlich kein persönlicher Bezug besteht, die jedoch das Verdrängte zum Vorschein bringen. So entstehen persönliche Gleichnisse, durch die tiefsitzendes Leiden ausgedrückt und eine energetische und gefühlsmäßige Loslösung vollzogen werden kann.
Mein Therapeut hüllte sich über all das in Schweigen und zeigte keinerlei Hilfsbereitschaft, meinem Kopf, der seiner Natur folgend die Dinge, die geschahen, verstehen wollte, die Zusammenhänge darzulegen. Statt mit Verständnis begegnete er meinen drängenden Fragen mit Abwehr: Die Arroganz meines Verstandes, so gab er mir wiederholte Male zu verstehen, sei anmaßend, wenn dieser begreifen will, was er nicht begreifen kann. Und immer wieder machte er mir klar, mein Herz wisse die Antworten längst. – Das war ein Schlag, der saß.
Rückblickend betrachtet, war es sicherlich vonnöten, mir einen erweckenden Impuls zu geben, der mich dazu animierte, auf die Weisheit des Herzens zu hören. Ich stelle also überhaupt nicht die außerordentliche Notwendigkeit in Frage, das Bewusstsein von seiner ausschließlichen Fokussierung auf den Verstand abzubringen und es wieder auf andere Impulse – Gefühl, Instinkt, Inspiration, Intuition, Spontaneität – auszurichten.
Ich empfinde es aber als verwerflich und unhaltbar, einem Menschen die ihm angeborene Wissenslust und Verstandesfähigkeit abzusprechen. Wie ein Kind mit seinen Händen nach den Dingen greift, um sie zu begreifen, so greift der Mensch – und darin unterscheidet er sich von seinen jüngeren Geschwistern, den Tieren, – mit seinem Verstand nach Ideen, Vorstellungen und Philosophien, um die Welt zu be-greifen.
Warum sollte der Verstand keine Daseinsberechtigung besitzen? Bleibt irrational-sentimentale Gefühlsgläubigkeit nicht ebenso in sich selbst gefangen wie Gehirnmasturbation, wenn sich beide nicht gegenseitig annähern und zu einem Gleichgewicht finden? Soll denn der Verstand bei der Evolution des Menschen zu einem holistisch integrierten Wesen auf der Strecke bleiben, wo er es doch am nötigsten hat, aus seiner Eingleisigkeit hinauszutreten?
Seine Linearität und Kausalität, so heißt die Anklage, haben die Welt in eine Sackgasse geführt, in eine menschenfeindliche, mechanistische Welt, die von Technik, Verwaltung und Geld beherrscht wird!
Das mag so aussehen, sagt der Verteidiger, aber betrachten wir doch eben diese so entsetzliche Welt einmal als ein vom Menschen erschaffenes Experiment. Können wir dann ihrem Schöpfer, dem Verstand, nicht einen recht hohen Grad an Kreativität zusprechen? Und angesichts der hohen Beteiligungsrate an Probanden, die an diesem künstlich geschlossenen System teilhaben wollen und ihr Leben hergeben, um eine Testreihe an sich selbst auszuprobieren, muss dieses Erzeugnis nicht einen ungeheuer hohen Stellenwert besitzen?
Auch das wiederum, der Ankläger ergreift das Wort, hat nur den Anschein von Tatsächlichkeit. Denn wurden nicht die meisten Errungenschaften und genialen Erfindungen der Menschen zuerst erträumt, in einem Zustand von Entrücktheit offenbart oder beiläufig entdeckt, bevor der menschliche Verstand überhaupt die Möglichkeit hatte, sich damit auseinander zusetzen?
Nun, der Richter muss entscheiden, in der Mitte liegt die Wahrheit. Der Verstand ist nicht Schöpfer, Genius oder Erfinder, aber er eröffnet den Zugang zur Welt und verbindet das Sichtbare mit dem Unsichtbaren.
Die weitverbreitete Lehre, den Verstand aufzugeben, bedeutet also, auf einen wichtigen Teil im Schöpfungsprozess, auf eine große Errungenschaft menschlicher Entwicklung, zu verzichten, nämlich auf den, der Ideen Ordnung und Struktur verleiht und sie zur Umsetzung führt. Wie die Fähigkeit, ein Musikinstrument mit Perfektion zu beherrschen und sein Potential auszuschöpfen, eine Kunst ist und von hohem Selbstausdruck zeugt, so ist es auch das Gebrauchen des Verstandeswerkzeuges. Es abzulegen hieße, die gegebenen Möglichkeiten der Welt unangetastet zu lassen und ihre Erfahrung abzulehnen. Das wäre ebenso wenig ganzheitlich wie andererseits seine bloße Verherrlichung.
Im gleichen Atemzug wird auch immer wieder das Ego genannt. Das rührt daher, dass der differenzierende Verstand derjenige ist, der eine Trennung zwischen Subjekt und Objekt, Innen und Außen, Ich und Welt vornimmt, und das Ego den Persönlichkeitsanteil bezeichnet, der sich als eigenständiges, aber von der Welt abgespaltenes Subjekt erfährt. Es ist sich seines individuellen Wesens bewusst; doch es leidet gleichzeitig darunter, isoliert zu sein und die Rückbindung an das Ganze (“Himmel und Erde”) verloren zu haben. Hinter manchem stolzen und verletzten Ego verbirgt sich daher der unerlöste Schmerz von unerfüllten Bedürfnissen, unterdrückten Wünschen, abgewiesenem Kontakt und verwehrter Liebe.
Das Ego und der Verstand bedürfen daher nicht der Aufgabe, sondern der Integration. Denn erst wenn ihre Wunden verbunden sind, können sie heil (=ganz) werden und eingebunden in das Ganze schließlich die ihnen zugedachten Aufgaben erfüllen, ohne in Übersteigerung oder Unterdrückung zu geraten.