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Verstand & Gefühl

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Gebe ich also zunächst dem Sprecher meiner Verstandeswelt das Wort, damit er vorbringe, was er zu meiner zweiten Session zu sagen hat:

Zunächst sieht diese Session wie eine Allerweltsgeschichte vom üblichen Verhältnis zwischen Frau und Mann aus, sie entpuppt sich bei näherer Betrachtung jedoch als bildliche Beschreibung der Rolle, die der Frau in der patriarchalen Gesellschaftsordnung, also seit etwa 6000 Jahren, zukommt.

Die Attribute idealisierter Weiblichkeit (Kleid, lange Haare, Ohrringe, Schönheit) in Verbindung mit harmonischen Beschreibungen der Natur (Sonnenschein, lachende Blumen, Sommerwind) weisen auf einen ursprünglichen, unschuldigen Zustand hin, der den Beginn der menschlichen Kultur kennzeichnet, und in dem die Frau noch nicht zum Verleumdungsopfer des sogenannten Sündenfalles geworden war. Die ihr von Natur aus zukommende Qualität wird mit dem Korb (= das Aufnehmende, Umschließende) und den Früchten (= das Nährende, Lebenspendende) sehr anschaulich verdeutlicht.

Der Übergang der wandernden Jäger und Sammler zu sesshaften Ackerbauern und Viehzüchtern vollzieht sich (die ersten Häuser des Dorfes, Lehmbauten, hölzernes Bett), und mit ihm alsbald der Wandel der sozialen Strukturen und der Rolle der Frau. Wie der Vogel im Haus seiner natürlichen Freiheit beraubt ist, so hat die Frau die ihr gebührende Wertschätzung verloren. Wurde sie einst in Gestalt der Vogelgöttin für ihre Fähigkeit, Leben zu schenken und zu nähren, verehrt (der Vogel als Symbol für Schöpfung und Lebensquelle; die Farbe Rot für Feuer = Urkraft und Blut = Leben), ist sie nun dem Mann untergeordnet. (Sie wartet auf ihn, folgt ihm, kocht für ihn.)

Der Mann, der die Verbindung zu außersinnlichen Welten längst unterbunden hat (Kappe auf dem Kopf), beherrscht mit seiner rechten Hand (Yang) unter dem Einsatz von Technik (Arbeitsgeräte) die Natur. Welche Bedeutung die Frau für ihn besitzt, wird durch die Betrachtung seiner linken Hand (Yin) klar: ein kaum beachtetes, nur dem eigenen Vergnügen nützendes, zahmes Tier an der Leine!

Lediglich bei der Zeugung von Nachkommen gewinnt die Frau an Bedeutung. Hierin liegt ihre Macht. Doch bringt sie sie zur Geltung, wird sie bestraft, aus der Gemeinschaft ausgestoßen oder – wie im Mittelalter exzessiv exerziert – exorziert und exekutiert…

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Der Verstand in seiner Glanzrolle: faszinierend, abstrahierend, objektivierend, synthetisierend – und gänzlich unpersönlich. Bitte ich ihn also um Erläuterungen in Bezug auf meine Person:

Nun, diese Session hat Erinnerungen weiblicher Seelenanteile in mir wachgerufen, und ich muss sagen, es war ein vollkommen natürliches und ausgesprochen angenehmes Gefühl, in einer weiblichen Haut zu stecken. Ich bin der Ansicht, dass es eine große Bereicherung darstellt, wenn ein Mann sich selbst als Frau erlebt, weil ihm dadurch frauenfeindliche Ideen fremd werden. Mit einer solchen Erfahrung erübrigt sich auch der verbissen ausgetragene Kampf der Geschlechter; denn offensichtlich ist die Seele weder männlichen noch weiblichen Geschlechts, sondern vereint beide in sich. Sich mit den gesellschaftlich festgelegten Eigenschaften nur eines Geschlechts zu identifizieren, halbiert demzufolge die Ausdrucksmöglichkeiten einer Person, die ihr von Natur aus zur Verfügung stünden.

Die Tatsache, dass es mir nicht sehr schwer fällt, mich gefühlsmäßig in einen Frauenkörper hineinzuversetzen, führe ich auch auf den Umstand zurück, ein Scheidungskind zu sein; denn dadurch wuchs ich in eine weibliche Welt hinein, die mich für den Umgang mit der “weichen Macht” sensibilisierte. Es verwundert nicht, dass mir der Kontakt zum weiblichen Geschlecht immer wesentlich leichter fiel. Besondere Schwierigkeiten hatte ich vielmehr mit gewissen Zeitgenossen, die sich unentwegt selbst darstellen…

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Der Verstand stellt Vermutungen und Beobachtungen, Vergleiche und Schlussfolgerungen an, kommt jedoch der Sache, was die Session eigentlich mit mir zu tun hat, nicht recht auf den Grund. Aber lasse ich ihn noch seine Ausführungen beenden:

Anders als natürlicher Selbstausdruck scheint die Selbstdarstellung ein Hauptmerkmal der männlich dominierten Gesellschaft zu sein: Man erhöht sich nach außen, um den Anschein zu erwecken, den sozialen Anforderungen gerecht zu werden. Diese steigen jedoch unaufhörlich – Hand in Hand mit dem Imperativ des Wirtschaftswachtums. Die Kraft, die dazu notwendig ist, geht dadurch im Innern verloren. Der Homo faber wird zur echten Bedrohung für den Homo sapiens. So legt er folgende, charakteristische Verhaltensweisen an den Tag:

Ichbezogenheit und Vereinzelung, Single-Dasein und Ego-Trips, Minderwertigkeit und Geltungssucht, Rechthaberei und Arroganz, Konkurrenz und Wettbewerb, Leistungswahn und Rastlosigkeit, Oberflächlichkeit und Verschlossenheit, Ellbogenverhalten, Unterdrückung und Machtkämpfe…

Die Angehörigen dieser Spezies geben diesen Phänomenen schönfärbend den Namen “Selbstverwirklichung”. Häufig ist dieser jedoch austauschbar mit dem Begriff “Selbstverwirkung”. Sie übersehen nämlich dabei, dass Selbstverwirklichung nicht bloß ein Drang ist, sich in immer kürzerer Zeit in immer größerem Umfang selbst bestätigen zu müssen, sondern vielmehr ein Prozess der Selbstentwicklung ist, der ver-wickeltes (=verborgenes) Potential ent-wickelt (=verwirklicht).

Selbstannahme scheinen sie nicht zu kennen („Ich muss viel erreichen, dann bin ich jemand.“). Ohne selbstgenügsam das zu akzeptieren, was gegenwärtig ist, gilt ihr Augenmerk immer dem, was einmal sein wird („Wann bin ich endlich volljährig?“, „Was willst du eigentlich werden?“, „Wann ist endlich Feierabend?“, „Wo machen wir im nächsten Jahr Urlaub?“). Von Selbstzweifeln geplagt sind sie unentwegt bemüht, einen zukünftigen, vermeintlich besseren Moment vorzubereiten, während die Gegenwart ungelebt an ihnen vorbeizieht („Nein, jetzt ist nicht der richtige Augenblick.“). So besteht die Gefahr, dass sie ihr Leben lang ihr kostbares Potential vor sich herschieben, ohne jemals erfahren zu haben, dass das Jetzt aus einem Schöpfungsakt der Selbstverwirklichung in jedem Augenblick entsteht…

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Das mag gewiss alles so sein, hat jedoch gänzlich den Bezug zur Session verloren. Aber auch das ist Verstandestechnik: unangenehmen Fragen ausweichen, die Aufmerksamkeit ablenken und sich in Dinge vertiefen, die keine Blöße zu erkennen geben.

Übergebe ich an dieser Stelle also dem Sprecher meiner Emotionswelt das Wort, um zu sehen, was er dazu zu äußern hat:

Das Thema der Session heißt Verlassenwerden. Dazu gibt es hier im Reich der Psyche auch einen passenden Auslöseknopf. Aber ich will ihn eigentlich gar nicht drücken. Nein, ganz bestimmt will ich ihn nicht aktivieren… Aufhören! NEIN!… Es wird mich Ewigkeiten kosten, wieder Ordnung zu…

PAPA!”

Ich laufe ihm nach.

Wo willst du denn hin?”

Er trägt seinen Koffer hinaus zum Auto.

Wir gehören doch zusammen!

Sein Gesicht ist starr, sein Schritt zielstrebig.

Kommst du denn wieder?”

Er wird davonfahren und fortbleiben.

Lieber Gott!”

Ich sitze betend auf dem Klo.

Bitte lass sie nicht auseinandergehen!”

Nebenan hören sie nicht auf, sich zu streiten – wieder einmal wegen der Kinder.

Und Arco möchte ich auch nicht verlieren.”

Doch Karl-Heinz, den ich nie mit “Papa” anreden wollte, wird seine Verlobte verlassen.

Unseren Hund wird er auch mitnehmen.

Hier kommt nun die Gefühlswelt voll zum Zuge: persönlich und verletzlich, irrational und selbstbezogen – und gänzlich subjektiv.

Ich habe noch nie einen Menschen so sehr geliebt wie dich.

Von dir getrennt zu sein, ist ein Ding der Unmöglichkeit, weil es einfach unvorstellbar ist.

Ich habe Angst, alleine zu sein.

Angst, mein Leben alleine nicht zu schaffen…

Wie kann ein lieber Mensch eine derart böse Macht über mich haben?

Wie können zwei Menschen, die sich einst so reich miteinander fühlten, alles verspielt haben?

Ich habe noch nie zuvor einen Menschen so gehasst wie dich.

Ich hasse dich für alles, was du mir nicht mehr geben willst…

Das wunderbare, tiefe Vertrauen, das zwischen dir und mir bestand, hat sich in elendige Verachtung verwandelt.

Unsere Liebe ist tot.

Aber noch immer ist diese Wut da, diese Verzweiflung, dieses Unfassbare deiner abscheulichen Verlogenheit und eiskalten Gleichgültigkeit.

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Der Emotionalkörper zieht alle seine Register, Erfahrungen, die er im Laufe seiner Existenz gesammelt und gespeichert hat und prägend auf sein Empfinden, seine Ausstrahlung und sein Verhalten wirken: Angst, Zerrissenheit, Selbstgerechtigkeit, Stolz, Wut, Zorn, Verlorenheit, Verzweiflung…

Du bist nichts besonderes mehr für mich, weil Du wie alle anderen geworden bist.

Verachtung.

Warum ist hier niemand, um mir beizustehen?

Selbstmitleid.

Ich sehne mich so sehr nach einem Schoß für meinen schweren Kopf und nach Händen, die ihn streicheln…

Sehnsucht und Verlangen.

Ich brauche jemanden, der mich liebt!

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