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Weisheit

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Es ist Krieg. Ich sehe Tote in Uniformen, neben ihnen Helme und lange Gewehre. Es liegt ein düsterer Nebel über dem Feld. Ich laufe umher. Auch ich trage eine Uniform, und ich töte mit meinem Gewehr. Das ist ganz normal, und ich denke auch nicht darüber nach. Als Soldat ist es meine Pflicht. Ich schieße sie der Reihe nach um, ohne lange zu zielen. Ich lache nicht laut, aber ich triumphiere innerlich. Ich empfinde Verachtung für die anderen. Je mehr Entsetzen ich in ihren Gesichtern sehe, desto größer ist mein Sieg. Ich fühle mich mächtig und unverwundbar.

Der Krieg ist vorbei. Auf meine Leistung bin ich stolz, kann meine Orden nicht lange genug betrachten. Doch davon abgesehen fühle ich mich einsam und leer…

Ich habe ein Herzleiden. Mein Gewehr und meinen Helm kann ich in der Zimmerecke vom Sterbebett aus sehen. Ich schimpfe über mein Herz, frage mich, wann der elende Krampf vorbei sein wird – und erliege dem Anfall. Mit einem Ruck lasse ich meinen Körper los.

Ein herzloses Leben. Eine stolze Egohülle ohne Inhalt, die so starb, wie sie gelebt hatte – mit versteinertem Herzen.

So habe ich erfahren, was es heißt, vollkommen abgeschnitten von der eigenen Lebensquelle zu existieren und darauf angewiesen zu sein, Macht aus dem Leben anderer zu gewinnen.

Ich habe erfahren, was es bedeutet, getrennt von der spirituellen Kraft zu leben, die die Menschen und die Welt untereinander verbindet. Unbewusst habe ich mich nach ihr gesehnt und sie in meiner tiefen Hingabe zum Vaterland gesucht. Der Glaube daran hat mich genährt, doch mein Herz, mein Mitgefühl, das mich mit anderen Menschen, auch mit meinen Feinden, hätte verknüpfen können, war kanalisiert, exklusiv auf die Heimatehre ausgerichtet und für andere Wahrheiten ganz und gar verschlossen.

Ich habe erfahren, welche Kraft hinter der Sehnsucht steckt, einem übergeordneten Ganzen zu dienen. Sie ist so stark, dass sie Weltbilder entwickelt und aufrecht erhält, die bloßen Ersatz bieten für die verlorene Würde und den entglittenen Lebenssinn. –

In der auf jene Session folgenden Nacht hatte ich einen Traum, der mir eine zusätzliche Erklärung gab:

Ein gewöhnlicher Mann wird von Zeit zu Zeit zu einer Bestie. Die Verwandlung vollzieht sich schrittweise. Zunächst werden seine Augen größer und treten hervor, seine Lippen schwellen an und sein glattes Haar wellt sich. Dann schiebt sich sein Oberkiefer nach vorn und bildet dabei ein Wolfsgebiss aus, zuletzt der Unterkiefer. Er faucht und greift andere Menschen an. Er selbst erklärt, dass dieses Phänomen von einer Explosion in seinem Kopf ausgelöst wird. Ich bin der Beobachter und gleichzeitig dieser Mann.

Mein Traum-Selbst hatte die Gestalt eines klassischen Werwolfs angenommen: Mann und Tier in einem Wesen vereint, Sinnbild für das Doppelwesen Mensch, der einen kosmischen und einen irdischen Anteil in sich trägt, zwei Seelen, die in der Brust des Menschen schlagen.

Da ist zunächst der Verstand, der ein seinen Wertvorstellungen entsprechendes Bild der Persönlichkeit, der er angehört, entwickelt hat, das er pflegt und „gewöhnlich“ nennt. Allerdings treten immer wieder Momente auf, in denen er überfordert ist, den Sinn nicht begreift, seine Welt nicht mehr versteht und infolge dessen aussetzt (Kopf explodiert). Dieser mentale Kurzschluss mag Auslöser oder Resultat der Aktivität seines Gegenspielers sein, er zeigt jedenfalls an, dass die animalische Kraft die Macht über die Persönlichkeit ergreift – unkontrolliert, roh und bedrohlich für den Verstandesmenschen (Bestie faucht und greift an). Beide Anteile (Mentalkörper und Emotionalkörper) stehen sich dabei unabhängig, gleichwertig, aber gänzlich unvereinbar gegenüber. Kann es einen lustvollen Intellekt geben oder einen geistvollen Trieb? Wie kann diese Polarität aufgelöst werden?

Dies muss durch eine Instanz geschehen, die die Gedanken und Gefühle des Menschen zueinander in Beziehung setzt und sie in sich integriert.

Dieser vermittelnde Dritte ist das Herz, in der Goldenen Mitte zwischen Kopf und Bauch gelegen. Es ist die königliche Quelle der Weisheit, in die all die inneren Stimmen hineingetaucht werden können, um zu beurteilen, ob sie in ihr Bestand haben.

Weisheit rührt weder von außerordentlicher Intelligenz noch von reuevoller Einsicht im Greisenalter her, sondern sie entspringt allein der Herzkraft. Die Kraft des Herzens besteht in der Liebe, die Kraft, die mit allem verbindet.

Während ich unter Spiritualität das Bewusstsein verstehe, dass alles Bestandteil eines Geistes ist, sehe ich in der Liebe die Kraft, die all jene Bestandteile zusammenhält.

Das Herz sucht stets Wege, die die größte Entfaltungsmöglichkeit für die Liebe bereithalten, Wege, die glücklich machen. Glücklich zu sein heißt, zu erfahren, dass etwas geschieht, das dem Leben Sinn gibt. Es heißt, dem Lebensfluss so zu folgen, wie er an der Quelle als Idee vorhanden war. Hier öffnet sich der Zugang zu innerem Wissen, das in andere Seinsbereiche einzutauchen und dadurch den Gesamtzusammenhang und den “höheren Sinn” zu erkennen vermag.

Das Herz ist der innere Lebensberater, das Sprachrohr zum nicht inkarnierten Größeren Selbst, das den Entwicklungsplan für das Leben besitzt.

Kopf und Bauch werden zu ehrbaren Mitarbeitern, wenn sie sich auf seine Ebene einschwingen und sich von ihm inspirieren (=“Spirit einhauchen“) lassen. Dann liefert der Bauch dem Menschen das richtige Gespür, den Instinkt (lat. instinguere = “anstacheln“), und der Kopf bekommt spontan den Durchblick oder die rettende Idee, die Intuition (lat. intueri = “hineinschauen“).

Mit dem Herzen als Wahrnehmungsorgan können jedoch nicht nur eigene Vorstellungen und Empfindungen auf ihre Resonanzeigenschaft untersucht werden, sondern ebenso die Aussagen und Ansichten anderer. Auf diese Weise kann man seiner eigenen Wahrheit treu bleiben und läuft nicht Gefahr, sich von herrschenden Meinungen hin- und herreißen zu lassen.

Beispielsweise lassen sich auch die Aussagen der Bibel oder anderer „heiliger“ Schriften unter die Lupe nehmen. Dabei fällt auf, dass eine große Anzahl von Versen keinen Widerhall im Herzen findet, sondern im Gegenteil gar Schmerzen verursacht. Man bekommt schnell heraus, dass man es nicht mit göttlichen Worten zu tun hat, sondern mit strikten Maßregelungen vergangener Herrschaftssysteme.

Paulus war bestrebt, all der Sektiererei, den sich der Wahrheit hold glaubenden, sich voneinander abspaltenden und gegenseitig bekämpfenden religiösen Gruppen entgegen zu wirken und ihnen eine einfache Grundlage zu geben: „So ist nun die Liebe die Erfüllung des Gesetzes.“ (Röm. 13,10).

In ihr vollzieht sich Religion. Sie macht Religion aus. Mehr als die verantwortungsvolle Bewusstheit des Herzens braucht Religion auch gar nicht. Alles andere ist bloß Beiwerk, all die Zutaten von Jungfraugeburten, Martyrien und Auferstehungen, Erlösung und Sündenvergebung, Opferung und Selbstverstümmelung entstammen dem reichhaltigen Fundus alter heidnischer Götterwelten und haben nicht das Geringste mit Herzensweisheit zu tun.

Paulus brachte es auf den Punkt: „Und wenn ich prophetisch reden könnte und wüsste alle Geheimnisse und alle Erkenntnis und hätte allen Glauben, so dass ich Berge versetzen könnte, und hätte die Liebe nicht, so wäre ich nichts.“ (1. Kor. 13,2)

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