Herr Zang war ein bemerkenswerter Lehrer. Ob seiner verächtlichen und arroganten Art war er bei den meisten Schülern verhasst. Trotzdem (oder gerade deswegen) mochte ich ihn. – Einerseits hatte ich wohl Mitleid mit ihm, und andererseits bewunderte ich ihn für sein umfangreiches Wissen. Er wiederum spürte mein Interesse, meine großen Fragen über das Grundlegende in der Welt, und so war er mir wohlgesonnen und fand stets sichtliches Vergnügen daran, meinen Verstand auf die Probe zu stellen. Gleich am ersten Tag, als er neu an unser Gymnasium kam und sich der Klasse vorstellte, sprach er mich an: „Sie sehen so intelligent aus, holen Sie doch mal ein Stück Kreide!“ ~ Mehrere Jahre lang genoss ich bei ihm Unterricht in Deutsch, Kunst und Philosophie. Letztere avancierte gar zu meinem Lieblingsfach, das mir reichhaltig Futter für meine Weltanschauungsfragen gab und mir nun bei den Präsentationen kosmologischer Konzeptionen sehr zu Gute kam.
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Brian O’Learys einführende Weltsicht, die Physik und Metaphysik zu einer Synthese vereint, fand bei mir großen Anklang. Ich nahm sein Plädoyer, über den althergebrachten „Konsenskasten“ hinauszublicken, an und beschloss, aufgeschlossen zu sein für die Ideen, die mir während des Kongresses begegnen würden. Ich wollte zunächst alles wertfrei aufnehmen, bevor ich es später kritisch prüfen würde.
Johannes von Buttlar, Astrophysiker und vielfacher Buchautor im Bereich der Grenzwissenschaften, verkörperte ebenfalls den Typ dieses „neuen Wissenschaftlers“, der in seinen Beiträgen während des Kongresses mit Leib und Seele für eine holistische Betrachtung der Dinge einstand.
Die vergangenen Jahrhunderte waren geprägt vom kartesischen Weltbild, von der Methode, auf der Suche nach dem grundlegenden Prinzip das Ganze reduktionistisch zu zerpflücken und atomistisch in Einzelteile zu zerlegen. Den Gegenpol dazu bildet der Holismus, bei dem es darum geht, in einem integralen Verständnis das Ganze in seinem Zusammenhang zu betrachten, als ein dynamisches, von wechselseitigen Beziehungen bestimmtes Geflecht, das weit mehr ist als die Summe seiner Bestandteile. – So machen einzelne Organe, beispielsweise ein Herz oder eine Leber, erst Sinn, wenn sie in Verbindung zum Gesamtorganismus stehen. Eine Herzmuskelzelle wiederum macht erst Sinn, wenn sie in Zusammenarbeit mit dem ganzen Organ wirkt. Und ein Zellkern wiederum macht erst Sinn, wenn das Zusammenspiel mit den anderen Zellorganellen funktioniert. An dieser Stelle ist aber nicht nur die Wechselbeziehung der Einzelsysteme zum Übergeordneten von Bedeutung, sondern hier zeigt sich plötzlich Erstaunliches; denn der Zellkern enthält das komplette Genom für den gesamten Körper. – In einem winzigen Bestandteil sind sämtliche Informationen über das Ganze vorhanden!
„Das Universum“, so von Buttlar, „ist ein Hologramm: So wie in jedem kleinen Ausschnitt eines Hologramms alle optischen Informationen des aufgenommenen Objekts enthalten sind, so hat auch der Mensch Zugang zu allen Informationen des Universums.“
Er beschrieb, dass der Mensch quasi in einem Informationsfeld lebt, in dem ein ständiger, wechselseitiger Transfer von Daten stattfindet. Zum einen speise er diesem kosmischen Gedächtnis (in der Theosophie mit ‚Akasha-Chronik’ bezeichnet) seine Gedanken, Gefühle, Worte und Handlungen ein und zum anderen rufe er diesen Informationspool (Rupert Sheldrake spricht von ‚morphischen Feldern’) – meist unbewusst – durch Resonanz ab.
Die Vorstellung, dass der Mensch ein Mikrokosmos ist, der in seinem harmonisch gegliederten Aufbau den Makrokosmos des Universums widerspiegelt, war mir jedoch nicht neu, vielmehr rief sie Erinnerungen an meinen Philosophie-Unterricht wach:
Bereits zur Zeit der Antike wurde jene Weltanschauung insbesondere vom griechischen Philosophen Platon (um 400 v. Chr.) gehegt, der als der Begründer der Metaphysik gilt. Die Inschrift auf einer sagenumwobenen Smaragdtafel, die auf jene Zeit zurückgehen mag und der Weisheitslehre des Gottes Hermes zugeschrieben wird, gibt sie mit folgenden Worten wieder: „Was oben ist, ist wie das, was unten ist, und was unten ist, ist wie das, was oben ist, zu vollführen die Wunder des Ganzen.“
Dieses ‚hermetische Axiom’ tauchte in den Kosmologien der nachfolgenden Epochen immer wieder auf. In der mittelalterlichen Mystik ebenso wie in der Renaissance (hier vor allem in den Schriften des Arztes und Philosophen Philippus Theophrastus Paracelsus und des Gelehrten Agrippa von Nettesheim) und zu Beginn der Aufklärung in der ‚Monadologie’ des Mathematikers und Philosophen Gottfried Wilhelm Leibniz.
Dieser unternahm im ausklingenden 17. Jahrhundert bereits den Versuch, die mechanistische Sicht der Dinge mit der klassischen Metaphysik zu verbinden. Nach ihm sind ‚Monaden’ die „wahren Atome des Universums“ – immaterielle Grundsubstanzen, die die Welt aufbauen. Jede Monade stellt dabei ein elementares Prinzip, eine wesenhafte Einheit dar. Gleichsam ist jede individuell und einzigartig und bildet in sich eine Ganzheit, steht aber mit allen anderen in Beziehung. Eine Monade ist demzufolge sowohl die Wirkkraft in einem Stück Materie, als auch eine Seele oder sogar Gott. Für Leibniz drückt jedes Stück Materie das ganze Universum aus, ist jede Seele ein Spiegel Gottes – mit Bewusstsein ausgestattet, das wahrnimmt und nach Weiterentwicklung strebt.
Die ‚fraktale Geometrie’, im 20. Jahrhundert von Benoît Mandelbrot entdeckt, veranschaulicht ebenfalls sehr eindrücklich das Prinzip eines Mikrokosmos im Makrokosmos. Fraktale sind nicht nur komplexe, mathematische Gebilde, die große Ähnlichkeit mit Naturformen besitzen (z.B. mit Gebirgszügen oder Küstenlinien), sie sind auch selbstähnlich; das heißt, in jedem Ausschnitt aus ihnen tauchen bei Vergrößerung bestimmte Figuren immer wieder auf. (Das ‚Apfelmännchen’ hat hierbei eine gewisse Berühmtheit erlangt.)
In der Vorstellungswelt des Russen Andrej Linde, so führte von Buttlar weiter aus, ist auch unser im Durchmesser 40 Milliarden Lichtjahre großes Universum nicht die letzte Einheit, vielmehr bilde es nach seiner Theorie der „chaotischen Inflation“ lediglich eine winzige Raumzeitblase – eingebettet in einen Raumzeitschaum, ein „Multiversum“, in dem es vor unzähligen Paralleluniversen nur so wimmelt, die wie in einem Schaumbad unentwegt neu entstehen, sich aufblähen und wieder zusammenbrechen…
Der Boden für ein erweitertes Vorstellungsvermögen in den Köpfen der Kongressbesucher war bereitet, nun konnten die bahnbrechenden Fakten ausgestreut werden.