Zu der Zeit, als der mächtige Wilzan an Spree und Havel herrschte, durchzog ein tiefes, unzugängliches Bruch den Potsdamer Werder, über den im Frühling das Wasser strömte und ihn in drei langgestreckte Inseln teilte. Auf ihnen lagen zerstreute Gehöfte und Fischerhütten, deren Bewohner die Seen und Arme der Havel befuhren, die damals noch reich an Stören, Lachsen und Welsen waren.
Wo jetzt die Kirche des Dorfes Alt-Geltow steht, war eine feste Burg des Krul (oder Unterkönigs) der Heveller erbaut. Der Krul war ein wilder, grausamer Mann, besonders seit sein einziger Sohn in einem Kampf gegen die Deutschen gefallen war. Zum Erben seiner Macht hatte er zwar seinen Neffen erwählt, doch blieb sein Herz dem Jüngling fremd. Er mied gar die Nähe des jungen Chocus, der ein rüstiger Jäger und Fischer war und im Kreis seiner munteren Gefährten sorglos die Tage verlebte.
Eines Abends im Frühling, als Chocus auf Wolfsjagd gewesen war, fuhr er mit seinem Knecht in einem Kahn von Templin nach Hause zurück. Das Wasser jedoch war hoch, und der Wind stürmte, als der Knecht das Ruder verlor, und der Sturm sie fortan hin- und herwarf. Als sie endlich an einer kleinen Insel festtrieben, war es bereits dunkel. Sie fanden Schutz hinter dem Schilf und schliefen ein.
Als der Fürst am Morgen erwachte, gewahrte er nahe bei sich einen Kahn, in dem eine Fischerin saß, die ein Netz ausgeworfen hatte und sang. Das Mädchen aber war so schön, dass er gar nicht wieder von ihm wegsehen konnte. Als die Fischerin jedoch den fremden, reich gekleideten Mann erblickte, war sie sehr erschrocken und stieß mit dem Kahn vom Ufer ab. Chocus ging ihr nach und sprach so schöne Worte, dass sie dem Mädchen zu Herzen gingen, und sie folgte seinen Wünschen und kam ans Land.
Am Abend schifften sie alle drei über den Fluss und landeten da, wo jetzt die Heilig-Geist-Kirche steht. Dort bauten sie sich eine Hütte und lebten viele Monate dort, bis Schnee fiel. Da sagte ihr Chocus, wer er sei, und dass sie seine Frau werden sollte.
Als nun das Moor zugefroren war, ging er über das Eis nach der Burg zu Geltow und gelobte, nach drei Tagen wiederzukommen mit Ross und Gefolge und sie heimzuführen. Als er jedoch in die Burg kam, war der Krul gestorben und ein anderer Nachfolger gewählt worden. Der neue Fürst ließ Chocus mit seinem Knecht in einen tiefen Kerker werfen, damit er umkomme. In der zweiten Nacht jedoch gelang ihm die Flucht nach Dragowit zum Wilzan. Der nahm ihn freundlich auf, doch Chocus wagte nicht, zu ihm von der Fischerin zu sprechen. Am neunten Tag aber konnte er die Sehnsucht nicht mehr ertragen, erzählte dem Wilzan alles, und dieser und sein Gefolge begleiteten ihn zu der Insel an der Havel.
Als sie aber über den tiefen Schnee zu der Hütte kamen, fanden sie das schöne weiße Mädchen starr und tot. Von der Stunde an hat der junge Held nie wieder gelacht, sein Auge erlosch und sein Haupt wurde weiß wie Schnee.
Der Wilzan schenkte ihm die drei Inseln; da baute er sich auf der Stelle, wo die Hütte stand, eine Burg. Weil er gar ein guter Herr war, sammelten sich viele Einwohner auf dem Werder, und bald war ein kleiner Ort entstanden.
Zur Seele des Ortes – Eine Sagenanalyse
So wie es einen Zeitgeist gibt, so gibt es auch den Geist eines Ortes.
Die Gründungssage von Potsdam gibt einige Hinweise auf die Grundcharakteristik, die diesen Ort und sein besonderes Flair im Laufe der Siedlungsgeschichte bestimmt hat und bis heute ausmacht.
In Sagen drückt sich die Seele eines Landes oft in Gestalt einer Frau aus. Naturdarstellungen im Allgemeinen bedienen sich häufig einer weiblichen Figur. So auch hier: Die Seele der vom Wasserelement geprägten Landschaft, der Moore und Brüche, nimmt die Form einer Fischerin an. Wie es für ein Nymphenwesen typisch ist, so ist auch sie scheu, aber wunderschön, und sie verzaubert den Reisenden mit ihrem Gesang (wovon auch Odysseus aus seiner Erfahrung mit den Sirenen „ein Lied zu singen“ weiß). – Lieblich und musisch sind demzufolge Attribute, die die ursprüngliche Ortsqualität beschreiben.
Das Netz, das die Fischerin ausgeworfen hat, steht als Symbol für ihre ernährende, Leben spendende Kraft (ähnlich wie die Spinnenfrau in ihrem Netz, die bei den Hopi als Lebensschöpferin gilt), also für die Fruchtbarkeit der Landschaft.
Gleichzeitig ist die Frauengestalt auch Menschenfischerin: Sie zieht den Reisenden in ihren Bann. Sie, die Verkörperung der Natur, lässt sich vom Menschen entdecken, prüft ihn aber dann genau, bevor sie sich auf ihn einlässt. Es scheint, als suche die Natur den Menschen, um in Gesellschaft mit ihm zu leben. Diese Vorstellung bestätigt sich durch den Sturm, in dem sich der göttliche Wille zeigt: Er führt den Menschen direkt zum Sitz der Landschaftsnymphe hin.
In einer Zeit, die noch durch die Vorstellung einer wesenhaften Natur bestimmt ist, kann ein Land nicht einfach erobert und in Besitz genommen werden, sondern vielmehr muss mit dem herrschenden Geist des Ortes in Kommunikation getreten werden, will man die Naturkräfte nicht gegen sich, sondern auf seiner Seite wissen.
Für den sorglosen Helden der Sage stellt diese Begegnung offenbar ein sehr intimes, gar übersinnliches Erlebnis dar; denn er wagt nicht einmal, darüber zu sprechen. Er versteht jedoch nicht, dass er die Seele des Ortes nicht einfach in seine Welt mitnehmen kann. So bedarf es einiger Schicksalsschläge, um seine Vorstellungen zu zerschlagen. Die neun Tage stehen hier stellvertretend für eine Phase der Wandlung, eine Initiation bzw. die Vollendung eines inneren Prozesses, durch den er hindurchgehen muss, bevor er seine wahre Aufgabe erfüllen kann.
Das Land und somit auch das Mädchen sind in Winterstarre gefallen, als der Held an den heiligen Ort der Begegnung zurückkehrt. Und wie Jakob nach seiner Vision der Himmelsleiter einen Altar errichtete, worauf später eine Kirche erbaut wurde, so baut auch Chocus zunächst eine Hütte an diese magische Stelle und ersetzt sie später durch eine Burganlage – die Urzelle Potsdams. (1726 ließ König Friedrich Wilhelm I. an dieser Stelle die Heiliggeistkirche errichten.)
Die Erblindung des Helden, sein Ergrauen und das eingebüßte Lachen können als Opfer des Menschen für die durch den Bau zerstörte Natur verstanden werden. Denn gemäß des damaligen Naturverständnisses musste durch Opferrituale ein Ausgleich für das Verletzen der Erde geschaffen werden. Gleichzeitig sind aber Blindheit und ein weißes Haupt Attribute eines alten Weisen und Sehers, der mit dem inneren Auge die Wahrheit erkennt. Die Anhängerschaft und Befürwortung, die ihm am Ende zuteil werden, zeugen jedenfalls von gelebter Herzensweisheit.
| Symbol | Bedeutung |
| Fischerin | vom Wasser geprägte Landschaft, Moore, Brüche |
| verzaubernde Schönheit, Gesang | inspirierende, musische Ortsqualität |
| Netz | ernährende Kraft, Fruchtbarkeit der Landschaft |
| zieht Reisenden in ihren Bann | „Menschenfischerin“ → Natur sucht den Menschen, um in Gesellschaft mit ihm zu leben |
| Sturm | übermenschlicher Wille: führt Menschen zum Sitz der Landschaftsnymphe |
| 9 Tage | Phase der Wandlung, Vollendung eines inneren Prozesses |
| starr und tot | Winter |
| Hütte, Burg | Fixierung des heiligen Ortes der Begegnung |
| Erblindung, Ergrauen | Opfer des Menschen für Zerstörung der Natur aber auch: Attribute eines Weisen, Sehers |
