Es klingt paradox. Man sehnt sich inbrünstig nach einer festen Bindung, nach Zugehörigkeit und Eingebundensein, sei es in eine Liebesbeziehung, eine Religionsgemeinschaft oder einen Fußballverein. Und gleichzeitig besitzt man das immanente Verlangen nach grenzenloser Freiheit, Unabhängigkeit und Eigenständigkeit. – Doch beide Aspekte gehören zusammen.
Es ist das Bedürfnis, an die Erfahrung des Geistseelen-Daseins anzuknüpfen: eingebunden zu sein in das All-Eine und gleichzeitig sich individuell zu entfalten.
Ich beobachte es an mir: Wenn ich die Freiheit habe, das zu tun, was ich will, fehlt mir bald die Gewissheit darüber, was ich wirklich will, und ich beginne, mich orientierungslos nach einer wegweisenden Richtlinie, einer haltbietenden Verbindung umzuschauen. Sobald mein Handlungsspielraum jedoch von außen in irgendeiner Form eingeschränkt wird, schreit alles in mir nach mehr Freiheit.
Der Freiheitsdrang ist in mir schon immer stark ausgeprägt gewesen. Schon immer hatte ich das Bedürfnis, mich mit meinen eigenen Dingen beschäftigen zu können; denn ich verabscheute, in Gruppen zu sein, in denen ich mich nach anderen richten und meinen Freiheitsdrang dem Willen und Wohl der Gemeinschaft opfern musste. Da kam ich ganz nach meinem Vater, der sich selbst als “einsamer Wolf” bezeichnet.
Als hyperaktiver Junge hatte ich es vorgezogen, der Anführer einer Clique zu sein, den Ton anzugeben und andere mitmachen zu lassen. Mit der Pubertät und den brennenden Fragen, die sich mir dann stellten, war ich jedoch zum eigenbrötlerischen Individualisten geworden, den der Mainstream nicht kümmerte, der nur den Kopf über all die emsigen Mitläufer schütteln konnte und vielmehr ein Empfinden für Minderheiten und Außenseiter entwickelte.
Mein Freundeskreis schrumpfte beträchtlich. Aber mir blieben zum Glück noch wenige echte Freunde, die mir erlaubten, der zu sein, der ich war. – Qualität wurde bei mir schon immer viel größer geschrieben als Quantität, und für einen gewissen Hang zur Perfektion war ich bekannt:
Dinge, die ich tat, führte ich gründlich, sorgfältig und ordentlich aus.
Dinge, die ich sagte, äußerte ich überlegt, knapp und auf den Punkt.
Dinge, die ich dachte, verknüpfte ich schlüssig, zusammenhängend und logisch.
Dinge, die ich fühlte, waren intensiv und gingen tief.
Unzufrieden wurde ich nur immer dann, wenn äußere Umstände (allen voran gesellschaftliche Erwartungen) mir nicht die Zeit, die Freizeit, die Freiheit gewährten, die ich beanspruchte, um weit hinter die Oberfläche der Dinge vorzudringen.
So ließ ich die belanglosen und alltäglichen, aber existentiellen Notwendigkeiten, die das Leben zwangsläufig mit sich bringt, gerne von anderen erledigen. Meine Mutter war darin erste Klasse. Stets gab sie all ihre Mühe und Fürsorge her und nahm jede Bürde auf sich, immer in Bereitschaft, sich selbst für ihre Kinder zu opfern, um ihnen das denkbar beste Leben zu ermöglichen; denn sie waren für sie ein großes Lebensglück.
Existenznöte kannte ich also nicht. Im Gegenteil. Bequemlichkeit wurde schnell zur Gewohnheit. Dadurch blieb ich jedoch immer auf meine Mutter angewiesen. Sie war mein zentraler Bezugspunkt, um den herum sich mein Leben aufbaute. Mit 18 Jahren hatte ich die psychische Nabelschnur, die mich mit ihr verband, noch immer nicht durchgetrennt. Und ich fühlte mich extrem unfrei.
Die australischen Ureinwohner sagen, nur derjenige sei wirklich frei, der sich selbst von der Erde ernähren kann.
An Konserven und Fertigfutter gewöhnt machte ich mir keine Gedanken darüber, woraus das Essen auf meinem Teller bestand und welcher Arbeitsaufwand darin verborgen lag, wie es zubereitet wurde, aus welcher Region oder welchem Land es stammte, wie es angebaut und geerntet wurde, ob mein Gemüse zu Wurzel, Spross, Blatt, Blüte oder Frucht gehörte und wie die Pflanze als Ganzes aussah oder wie mein Stück Fleisch gelebt und auf welche Weise es sein Leben gelassen hatte.
Mich selbst von der Erde ernähren? Das konnte ich nicht. Überhaupt schien ich auf ein eigenständiges, freiheitliches Leben in keinster Weise vorbereitet zu sein. Mein ganzes Leben basierte auf Abhängigkeiten. Nicht nur, dass ich unfähig war, eigene Kleidung zu schneidern, zu weben und zu spinnen, ich vermochte lange Zeit nicht einmal, mir selbst eine Hose zu kaufen. Mama machte das schon. Und wenn das besorgte Stück nicht richtig passte, nahm ich das eher in Kauf als mich der Peinlichkeit auszusetzen, hilflos im Geschäft zu stehen und nicht zu wissen, wie ich mich dort zurechtfinden sollte.
Zu Beginn meiner Volljährigkeit musste ich also erkennen, dass ich einerseits in einer extrem einseitigen Bindung zu meiner Mutter steckte, und mich andererseits gänzlich über die Natur erhoben (=vom Leben entfremdet) und gleichzeitig die Zugehörigkeit zu jeder Gruppengemeinschaft aufgegeben hatte. Und mehr und mehr scheute ich den Kontakt mit anderen Menschen. Sie könnten ja meine Unerfahrenheit bemerken und sich höhnisch darüber lustig machen. Vor allem schüchterte mich die Männerwelt ein. Mit ihr kam ich gar nicht zurecht; denn sie war mir fremd.
* * *
Ich war drei Jahre alt, als meine Eltern sich scheiden ließen. Zusammengekauert saß ich damals auf der Treppe im breiten Hausflur unserer Villa. In meinen kleinen Händen hielt ich ein schweres Köpfchen, das versuchte, die Welt zu verstehen. Es konnte nicht fassen, dass mein Papa von nun an nicht mehr bei uns sein würde. Die großen weiten Augen hatten ihren Glanz unter den schweren Lidern verloren und wollten gar nicht sehen, wie das ihnen vertraute Zuhause in zwei Hälften getrennt, auseinander dividiert und in einzelnen Bestandteilen hinausgeschafft wurde. Ich schlich zur Mama in die Küche, zupfte ihr an der Hose und fragte sie: “Wo geht Papa denn hin?” Sie konnte es mir nicht sagen und begann zu weinen.
Ich zog mit ihr und meiner kleinen Schwester, die gerade geboren war, in eine kleine Wohnung. Ich kam in den Kindergarten. Dort ließ Mama mich jeden Morgen schreiend zurück. Sie musste zur Arbeit. Sie musste viel arbeiten. Darum verbrachten Janine und ich viel Zeit bei Oma und Opa, die als einzige immer für uns da waren. Papa kam uns alle Vierzehntage für zwei oder drei Stunden besuchen.
Ich mochte den Kindergarten nicht. Ich nahm auch nicht am Gemeinschaftsessen teil. Statt dessen hatte Mama mir Butterbrote mitgegeben, die ich verzehrte, während ich den anderen Kindern beim Sport zusah.
Mit der Zeit ging ich mehr aus mir heraus. Mit den Jungs prügelte ich mich, und den Mädchen zertrampelte ich die Sandbauten und warf ihnen die Trümmer ins Gesicht. Zur Strafe – so war das üblich – wurde man in die Ecke neben der Tür auf den großen Stuhl gesetzt. Niemand saß hier so viel Zeit ab wie ich. Man durfte nicht aufstehen und musste den anderen Kindern beim Spielen zusehen, solange bis die Obererzieherin kam. Ich konnte sie nicht leiden. Sie nahm mich mit an einen ungestörten Ort, platzierte mich an einen Tisch, setzte sich mir gegenüber und schaute mit bösen Augen zu mir hinunter. In ihrem Schweigen rumorte bereits der Donner, der im nächsten Augenblick auf mich einschlug: “Warum hast du das getan??”
Ich konnte es ihr nicht sagen. Ich wusste es nicht. Ich zuckte mit den Schultern und wischte mir die Tränen fort, die mir unentwegt die Wangen hinunterkullerten, obwohl ich angestrengt versuchte, sie zu unterdrücken.
Die Lücke eines starken und lebendigen, männlichen Vorbildes ersetzte ich im Verlauf meiner Kindheit mit Vorbildern aus dem Fernsehen – mit lässigen, cleveren und unerschütterlichen Filmhelden. Nach meinem Berufswunsch gefragt gab ich zurück: Stuntman. So hatte ich, wenn ich morgens zur Schule kam, bereits vor Beginn des Unterrichts Bäume erklommen, Mauern überwunden und mich in raue Abenteuerwelten gestürzt. Ob ich im Klassenzimmer aus dem Fenster kletterte, um auf dem Gesims zu balancieren, oder im Sportunterricht aus dem unspektakulären Kastensprung einen sensationellen Überflieger entwickelte, ich trainierte mir eine harte Schale an, um in die Männerwelt – wie sie mir eingeprägt worden war – hineinzupassen.