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Geschenk

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„Jetzt bitte einmal Dein inneres Kind, dass es vor deinen Augen Gestalt annimmt!“

Das wilde Zucken meiner geschlossenen Augenlider hatte nachgelassen, und ich schaute erwartungsvoll, was vor meinem inneren Auge geschehen würde. Plötzlich trat im nächsten Augenblick undeutlich und schemenhaft das Bild eines kleinen Kindes in mein Bewusstsein.

„Wie alt ist es?“

„Ein, nein zwei Jahre.“

„Was macht es?“

Ich fokussierte meine Aufmerksamkeit, und langsam gewann das Bild an Klarheit.

„Es liegt auf einer Liege.“

„Ist es alleine oder mit anderen zusammen?“

„Nein, es ist allein.“

„Sieh mal, was es für Kleidung trägt!“

„Es hat gar nichts an.“

„Wie fühlt es sich?“

„Och, es fühlt sich ganz gut. Geborgen.“

„Schläft es?“

„Nein, es schaut mich mit großen Augen an.“

„Gefällt es dir?“

„Ja.“ sagte ich, als sich die Stimmung meiner in der Vorstellung ablaufenden Szenerie schlagartig wandelte.

„Was geschieht jetzt?“

„Es fühlt sich scheinbar doch nicht geborgen… Ich glaube, es fühlt sich einsam. Es sehnt sich vielleicht danach, dass ich mit ihm etwas anstelle.“

„Dann streck deine Hände mit Liebe nach ihm aus!“

„Es streckt seine Hände auch aus.“

„Wie ist das für dich?“

„Ich freue mich, dass es mich zum Spielen haben will.“

„Kannst du es in deine Arme nehmen?“

„Nein.“ Ich war ganz erschrocken, „Da ist eine unsichtbare Wand.“

„Frag dein inneres Kind mal, wo die Wand herkommt!“ sagte Rudolf, der als Therapeut wusste, wie mit einer solchen Situation umzugehen war.

„Aus meinem Inneren.“

„Wie fühlt sie sich an?“

„Kalt… Meine Hände kann ich über die Mauer halten.“

„Was macht das Kind?“

„Es würde mir gerne die Hände geben, aber ich bin zu weit weg. Bin ziemlich ratlos.“

„Bitte dein Höheres Selbst, dir zu zeigen, wo in deinem Körper diese kalte Wand sitzt!“

„Im Herzen.“

„Dann frag dein Herz, welche Farbe es braucht, um diese Wand aufzulösen, nimm die erste Farbe, die dir in den Sinn kommt und hole sie dir aus dem Universum in dein Herz hinein und fülle es damit auf!“

Flugs hatte ich mir eine Farbe ausgedacht und kippte sie aus einem kosmischen Eimer in meine Brust, solange bis ich feststellte, ihr Bedarf sei gestillt.

„Gut. Bitte dann dein inneres Kind, mit dir an einen sicheren Ort zu gehen!“

„Okay.“

„Was siehst du jetzt?“

„Eine Wiese am Waldrand.“

„Was macht das Kind?“

„Es liegt immer noch auf der Liege. Es hat etwas in der Hand.“

„Was ist es?“

„Ich weiß nicht, sieht korallenförmig aus.“

„Wie fühlt es sich an?“

„Hart und rau. Es ist irgendein Gestein… Es verändert seine Form, es ist jetzt ganz glatt.“

„Was kann man damit machen?“

„Vielleicht kann man damit zaubern.“

„Frag mal dein inneres Kind, ob das stimmt!“

„‘Ich hab’s dir doch gesagt, damit kann man zaubern.’“

„Was geschieht jetzt?“

„Ich habe einen Baum gezaubert.“

„Wie sieht der aus?“

„Der ist genauso schön, wie die anderen, die da auch schon stehen.“

„Wo ist die Mauer jetzt?“

„Ich weiß nicht mehr, wo sie ist.“

„Kannst du das Kind jetzt in den Arm nehmen?“

„Ja.“

„Dann tu das! … Wie fühlt sich das an?“

„Hmmm, schön weich.“

„Gefällt dir das?“

„Ja. Es freut sich, genau wie ich.“

„Möchtest du ihm etwas sagen?“

„Ja, dass ich es sehr gern habe.“

„Dann sag es ihm! Was antwortet es?“

„Es hat mich auch gern.“

„Dann frag dein inneres Kind, was für ein Geschenk es dir machen möchte!“

„Den Zauberstein.“

„Wunderschön. Dann ziehe ihn in deinen Körper hinein und sieh mal, wo in deinem Körper du ihn aufnimmst!“

„In die Brust.“

„Was empfindest du?“

„Es wird dort ganz heiß.“

„Und dann frag dein inneres Kind, welches Geschenk es von dir haben möchte!“

„Es möchte bei mir bleiben.“

„Dann sag ihm, dass du es liebst und es nie mehr von dir getrennt sein wird!“

Ich schenkte ihm meine Liebe und sah, wie es in meinen Armen mit mir verschmolz.

Es war in den großen Ferien im heißen August des Jahres 1991, als sich für Patrick und mich ein großer, gemeinsam gehegter Wunsch erfüllte. Wir hatten bereits gejobbt, um uns das nötige Kleingeld zu beschaffen, und traten nun unseren ersten gemeinsamen Urlaub an.

Ziel war ein kleiner Ort am Bodensee, in dem es eine Pfarrkirche, ein Wirtshaus, viele gemütliche Häuschen mit großen Gärten und einen Aussichtsturm gab und abgesehen von einer Tankstelle, die den Vergaser meines Wagens wieder auf Vordermann brachte, nichts bot, das für junge Leute wie uns auch nur annähernd attraktiv gewesen wäre.

Dennoch nisteten wir uns für eine Woche in eine schöne, kleine Pension ein, die uns als Basis für unsere täglichen abenteuerlichen Ausflüge diente. Das Auto blieb dabei allerdings vor der Tür; denn wir hatten nur um zwei Straßenecken zu gehen, und wir waren am Ziel.

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