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Selbstentfaltung

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Der dritte Sessiontag förderte eine neue Geschichte zu Tage:

Weite Wüste. Eine flache, schier endlose Einöde aus Sand. Die Sonne brennt heiß. Irgendwelche Käfer scharen sich um meine Füße. Ich stoße sie weg. Mein Gaumen und meine Zunge sind ausgetrocknet – als hätte ich einen staubigen, trockenen Schwamm in meinem Mund. Ich brauche Wasser. Zerschlissenes Leder trage ich an meinem etwa 30 Jahre alten Körper. Ich schleppe mich vorwärts, ziellos. Die Hitze ist unerträglich… Ich kann mich gar nicht erinnern, wie ich hierher gekommen bin… Ich habe solche Schmerzen im Bauch, und mein Kopf dröhnt… Der Wind ist so entsetzlich heiß… Da! Was sehe ich? Reitet da nicht jemand? Nein, Luftspiegelungen… Das Leben ist grausam… Ich glaube, es geht mit mir zu Ende… Ich liege im Sand, bin zu schwach, um weiterzugehen. Mir kommt es so vor, als würde meine Haut verbrennen. Ich hoffe, dass es bald vorbei ist. Endlich! Meine Schmerzen hören auf, die Sonne kühlt ab, und ich finde mich wieder in einer üppigen Fülle von Weintrauben…

Die Kindheit:

Ein Zeltlager. Ich bin ein kleiner Junge von 5 Jahren und trage einen Turban auf dem Kopf. Ein Fest wird gefeiert. Ich bin vergnügt und freue mich aufs Essen. Meine Eltern sind bei mir, und viele Angehörige meines Stammes auch. Die Tiere sollen gefüttert werden, und ich laufe los, um Wasser zu holen. Ein Kamel habe ich besonders gern. Ich muss lachen, weil es beim Trinken den ganzen Eimer mit hoch reißt! – Wir sind Nomaden, reiten viel umher, von einem Ort zum anderen.

Ein paar Jahre später:

Wir haben unser Lager in der Nähe eines großen Handelsortes aufgeschlagen. Ich laufe mit meinen Freunden auf den Märkten umher. Am späten Abend entdecken wir am Wegesrand plötzlich einen Gegenstand, der halb verdeckt im Sand liegt. Es ist eine goldene Uhr! Wir sind aufgebracht. Sie sieht schön aus. Ich will sie behalten und verberge sie in meinen Händen. Die anderen Kinder wollen sie mir wegnehmen, doch ich gebe sie nicht her und laufe weg.

Ich mache sie sauber. Wie sie glänzt! Allen Erwachsenen zeige ich meinen Fund, und sie staunen. Die Kinder beschweren sich, weil sie sie nicht sehen dürfen. Weil bei uns aber das Gesetz gilt, dass alles miteinander geteilt wird, zwingen mich meine Eltern, die Uhr abzugeben. Damit bin ich sehr unglücklich. Es hat mir so viel bedeutet, etwas zu besitzen, das kein anderer hat. Von dem Zeitpunkt an wollen die Kinder mich nicht mehr bei sich haben. Sie ärgern und hänseln mich nur.

So fing alles an, und irgendwann hatte ich das Stammesleben satt. Ich wollte dahin gehen, wo es ein Recht auf Eigentum gibt, und so ritt ich davon. Doch auf einmal fand ich mich mitten in der Wüste nicht mehr zurecht…

In diesem Auszug aus meinem Unterbewusstsein treffen wieder mehrere Ebenen aufeinander. Meine eigene Persönlichkeit zeigt sich darin, genau wie die Gesellschaft, die sie geprägt hat.

Zentrales Element der Geschichte ist das Finden der goldenen Uhr. Es läutet symbolisch betrachtet einen Wertewandel ein und markiert einen Punkt sowohl in der Entwicklungsgeschichte der Menschheit als auch im Heranreifen des Einzelnen, an dem ein neues Bewusstsein hervortritt: Das Ich-Bewusstsein löst das Wir-Bewusstsein ab.

Zu der Zeit, als die tiergestaltigen Götter aus dem Pantheon verschwanden, um menschengestaltigen Platz zu machen, hob sich der menschliche Geist aus dem Naturreich hervor und trachtete nach Eigenständigkeit. Individualität entwickelte sich als neuer Wesenszug des Menschen und prallte dabei auf seine ihm innewohnende soziale Natur. Ein Konflikt entbrannte, der bis heute ausgetragen wird: Ego versus Sozio. Das erwachte Individuum will aus dem althergebrachten Sippenverband ausbrechen. Es hat den Drang, unabhängig zu sein, Einzigartigkeit zu erfahren und sich nach seinen eigenen Wünschen zu entfalten.

Die goldene Uhr, die für das Überleben in der Wüste an und für sich keine Bedeutung besitzt, verleiht der Ich-Person in meiner Session jenen Anflug von Selbstverwirklichung. Doch gleich die nächste Erfahrung zeigt ihr, was das Beharren auf diesem „Privileg“ mit sich bringt: den Konflikt mit seinen Mitmenschen. Resolut kehrt der unverstandene Sonderling schließlich seiner Familie den Rücken zu und geht seinen selbstgewählten Weg – so wie jeder Heranwachsende sich in der Pubertät vorübergehend von den Eltern lossagt, um seine Unabhängigkeit zu bekräftigen. Aber warum muss die Figur in meiner Session auf derart elende Weise sterben? Warum wird ihr Tun so arg vereitelt?

Mir war klar, dass ich selbst dieser „Deserteur“ war, der den Herdencharakter jedes Gruppenzwanges verschmähte und der es hasste, der Allgemeinheit gleichgeschaltet zu werden. Ich war gewohnt, mich von den Menschen abzuwenden, weil ich aus Erfahrung wusste, dass ich, seit ich den Weg nach Innen eingeschlagen hatte, keine Beachtung oder Akzeptanz der nach außen gerichteten Welt erwarten konnte. Sie bot keinen Platz für „Aus-der-Reihe-Tänzer“, und so kapselte ich mich von der Welt ab, teilte ungern mit anderen und behielt auch mein Wissen für mich. Meine CDs verborgte ich nicht; warum sollte ein anderer einen Nutzen aus meinem Taschengeld ziehen? Meine Hausaufgaben ließ ich nur widerwillig abschreiben; warum sollte ein anderer von meiner Arbeit profitieren?

Mein damaliges Verhalten, das mit jener Session begann sich zu wandeln, ist natürlich Abbild der gesellschaftlichen Spielregeln. Und genau diese werden durch die goldene Uhr versinnbildlicht. Sie ist Symbol für die Wohlstands- und Kapitalgesellschaft, in der Gold der Inbegriff für Reichtum ist und die Gleichung gilt: Zeit ist Geld.

Unter der Regentschaft dieser beiden kämpft die Gesellschaft um Vormachtstellungen in der Welt, die sie auf bloße Konkurrenzkräfte reduziert hat. Als Single- und Industriegesellschaft ist sie zu einer zwischenmenschlichen und spirituellen Wüste verkommen. Die Verteidigung des Eigentums in Gestalt der Uhr veranschaulicht das Festhalten an materiellen Gütern und das Streben nach Besitz.

Tatsächlich besitzt der Mensch nicht ein Sandkorn dieser Erde. Dennoch verwendet er einen Großteil seiner Lebenszeit damit, die Dinge, die er sein Eigen nennt, zu ordnen und zu verwalten, auszumessen und abzugrenzen. Nichts dergleichen kann er nach seinem Tod mit sich nehmen. Dennoch beharrt er auf seinen harterarbeiteten Beständen und klammert sich an Kostbarkeiten, weil sie ihm ein Gefühl von Reichtum vermitteln, das er im Inneren verloren hat. Das geht so weit, dass manch einer auch nach seinem Tod nicht von seinen Besitztümern lassen kann und fortan als Geist in ihnen umherpoltert.

Solange er sich nach dem definiert, was er besitzt, kann der Mensch auch sein Leben nicht mit anderen teilen.

Die Session hat mir unmissverständlich gezeigt, dass äußerer Reichtum, die Besitzergreifung jedweder Art, in die Sackgasse – sprich: in die Wüste – führt. Die Konsequenz, die ich für mich daraus zog, ist, mich nicht an die Dinge, die mir im Leben zufallen, zu klammern, sondern sie weiterzugeben, um offen zu sein und die Hände frei zu haben für alles Neue, das kommen würde.

Durch die Bildersprache der Session ist mir deutlich geworden, dass das Miteinander-Teilen und das Mit-Teilen Nahrung bedeuten: Erst als das Zwischenmenschliche ausblieb, wurde der Lebensraum Wüste zu einer Wüste im wörtlichen Sinn: zur Leere.

Es mag Menschen geben, die in ihrem Leben das Alleinsein wählen, als Eremiten in die Berge ziehen und glücklich damit sind. Einen solchen Anteil trage ich auch in mir. Dennoch sehe ich in zwischenmenschlichen Beziehungen einen wundervollen Rahmen für das persönliche Wachstum, in dem ich durch das Verstehen der anderen mich selbst verstehen kann. Dadurch, dass ein Gegenüber mir stets einen Spiegel vorhält, erhalte ich unentwegt Anstöße zur eigenen Entwicklung.

Auf gesellschaftlicher Ebene sollte es nun darum gehen, das Individuelle und das Soziale im Menschen miteinander zu vereinbaren. Jeder Staat sollte sich vornehmlich mit der Frage auseinandersetzen: Wie kann eine Gesellschaft aussehen, in der jedes Individuum zum Wohl der Allgemeinheit beiträgt, indem es sich selbst frei entfaltet?

Die Soziologen sagen, dass der Mensch erst dann beginnt, nach Selbstverwirklichung zu streben, wenn seine materiellen Bedürfnisse befriedigt sind. Das anerkannte Motto dazu lautet: Erst die Arbeit, dann das Vergnügen. Ich frage mich, warum es für den Menschen nicht möglich sein sollte, seine Bedürfnisse dadurch zu befriedigen, dass er sich selbst verwirklicht. Das Motto hieße dann: Das Vergnügen liegt in der Arbeit. Meiner Beobachtung zufolge sind zu wenig Menschen in der Lage, solches über ihre Tätigkeit zu sagen.

Warum muss der Mensch zu einer Funktion hochgezüchtet werden, die gar nicht seiner Natur entspricht? Warum kann ein Mensch nicht einfach mit den Eigenschaften akzeptiert werden, die er in die Welt mitbringt? Warum kann nicht jedes Talent, das er besitzt, als ein Geschenk für die Welt angesehen werden? Warum kann ein Mensch nicht einfach geliebt werden, so wie er ist? Denn das würde ihn innerlich reich machen. Wer innerlich reich ist, fühlt seine Macht im Inneren und muss sich nicht genötigt fühlen, sie im Außen zu suchen.

Ich habe 1993 ein Gedicht geschrieben, das dieses gesellschaftliche Ideal beschreibt. Es bedient sich des Bildes einer Spinne, die besessen von der Vision einer großartigen Konstruktion all ihre Hingabe und Kraft dafür einsetzt, sie zu verwirklichen. Nur weil sie dies tut, bekommen die Fliegen die Möglichkeit, sie zu ernähren. → “About Creation

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