Reinkarnation machte für mich viel Sinn.
Die Vorstellung, als Geistseele von einer Lebensform zur nächsten zu hüpfen, sagte mir jedenfalls mehr zu als nach meinem Tod nichts anderes tun zu können als darauf zu warten, dass irgendwem irgendwann einmal einfällt, das Jüngste Gericht einzuberufen, und dann darauf zu hoffen, dass meine Taten auf der Erde ein kleines bisschen mehr gut bewertet würden als schlecht.
Dieser moralische Zeigefinger war es, den ich an Gott noch nie leiden konnte, der aber in meinem Gewissen Anker gesetzt hatte; schließlich war ich christlich getauft und konfirmiert worden. Immer wieder verunsicherte er mich, redete mir Schuld ein, bekleckerte mich mit Sündflecken, machte mich klein und unwichtig und machtlos und versprach mir für meine Degradierung ein üppiges Seelenheil. Ein Seelenheim für Gehorsame. Ein Königreich für Ergebene. Jesus macht es vor und lässt sich ans Kreuz nageln.
Eine wahre Glanzleistung, die in meiner Kinderseele großes Mitleid für das Opfer und noch größere Verachtung für die Täter ausgelöst hatte! Welch ein effizientes Mittel, den Menschen die Sprache Gottes zu verdeutlichen! – Verstehen konnte ich sie allerdings nicht.
Jesus hatte die Menschen das „Licht der Welt“ genannt (Mt. 5,14), sie alle zu Gottes Kindern erklärt und ihnen einen neuen Vater gegeben. Er hatte kräftig mit dem „Schweinestall“ der bestehenden Vaterkonzeptionen aufgeräumt und die Stimme des Herzens zur Sprache des Vaters erhoben. Somit hatte er sie hörbar, erfahrbar und den Menschen wieder zugänglich gemacht, damit diese ihre Rolle als “Kind” neu definieren und das Universalgesetz der Liebe wieder in ihr Leben integrieren konnten.
Als Kind betete ich zwar zum “Vater unser” (immer dann, wenn mir mein schlechtes Gewissen signalisierte, dass ich mich wieder einmal melden sollte), doch gestand ich mir all die Eigenschaften und Fähigkeiten zu, die einem Kind Gottes gebührten? – Nein, niemals. Niemand hatte mich darüber aufgeklärt, dass ich ein Prinz aus dem Königreich Gottes war.
Überhaupt hatte ich ganz eigenartige Dinge über diese Königsfamilie erfahren, die lange, dunkle Schatten auf ihren Lichtpalast warfen:
Mir wurde ein Vater gezeigt, der seine Kinder ständig überwachte und sie für ihre Vergehen bestrafte. Ich hätte ihn vielleicht verstehen können, wenn er selbst eine grausame Kindheit erlebt hätte und von herrschsüchtigen Eltern malträtiert worden wäre. Aber das konnte ich mir nicht vorstellen; denn wenn er unvergänglich war, konnte er nicht geboren worden sein.
Mir wurde ein Vater gezeigt, der seinen Sohn abschlachten ließ. Der Abschreckung nicht genug, denn dafür sollte ich ihm auch noch meine Dankbarkeit zeigen. Schließlich hatten seine Blutstropfen mich reingewaschen. – Ein bisschen zu selbstgerecht, der Mann! Mir erst ohne meine Zustimmung den Dreck vom Stecken putzen und dann dafür abkassieren wollen… Auch diese Eigenschaft erschien mir ein wenig zu menschlich.
Ich kam zu dem Schluss, dass jemand ihm dieses Image untergejubelt haben musste. Ein Mythos, der bis in die heutige Zeit überlebt hatte, übte Macht auf mich aus und wollte mich kontrollieren. Kein himmlischer Vater. Bloß ein Mythos, dem aus lauter Angst vor der eigenen Freiheit und der damit verbundenen Verantwortung immer noch Gültigkeit gewährt wird. Ein Mythos mit der trüben Philosophie der Erlösung vom Leid durch Leid, die die Rechtfertigung für alle Missstände dieser Welt gleich mitliefert.
Also, heiligt der Zweck die Mittel, oder ist der Weg das Ziel?
Ich hatte die Wahl und entschied mich für das zweite, wodurch ich dem Christentum in seiner heutigen Form den Rücken kehrte und mich auf die Suche nach einem “neuen Vater”, meinem wahren Ursprung, machte.
Die hinduistische Lehre, die mir die Wiedergeburtsidee nahe brachte, machte mir klar, dass ich meines eigenen Glückes Schmied war.
Alles, was mir in diesem Leben widerfuhr, hatte ich mir in einer vorigen Inkarnation selbst eingebrockt. Hatte ich gute Taten vollbracht, wurde ich nun mit guten Dingen bedacht, schlechte Taten kamen mit entsprechenden Auswirkungen auf mich zurück. Das Schlüsselwort: Karma, das Gesetz von Ursache und Wirkung des Tuns.
Nicht die Willkür einer höheren Macht bestimmte mein Schicksal, sondern ich selbst. Das gefiel mir. Darum ließ ich mich erst einmal auf die Wirklichkeit dieses Glaubenssystems ein und schaute, was es in mir bewirkte.
Bevor ich also als Geistseele auf die Erde reiste und meine Multidimensionalität für den Aufenthalt im Raum-Zeit-Bezugsrahmen dem Unbewussten übergab, hatte ich mir einen “Wiedergutmachungsplan” für das Leben erstellt, mit dem ich meine üblen historischen Taten wieder bereinigen konnte. Hatte ich also beispielsweise im letzten Leben als Mutter meine Tochter ertränkt, sorgte ich für das kommende Leben dafür, dass ich mich wegen ihr als meine Geliebte aus Liebeskummer strangulierte. Prädestinierte Selbstkasteiung sozusagen. Beim Entwurf des Szenarios, wodurch dies letztendlich geschah, waren der Phantasie keine Grenzen gesetzt; Hauptsache, das Ergebnis entsprach dem Gesetz der ausgleichenden Gerechtigkeit, dieser anonymen Instanz, die jede Tat eines Menschen auf die Goldwaage legte und entschied: gut oder schlecht.
Die Freiheit, mein Leben im Hier und Jetzt zu gestalten, schien ich also mit der Erinnerung an mein eigenes Lebensdesign an der Pforte zur materiellen Welt gelassen zu haben. Ich war also nichts anderes als eine Marionette meiner eigenen höheren Weisheit, die einem mir nicht zugänglichen Gesetz gehorchte, das wieder nur das Ergebnis kennt und sich um die Mittel nicht schert.
Ich hätte nur gerne gewusst, welches Karma ich mit diesem moralischen Zeigefinger hatte. Denn so war ich ihm wiederbegegnet.
Klage nicht über dein Schicksal, sagte er, du hast es doch selbst gewählt. Und was sorgst du dich um das Schicksal anderer Menschen? Sie haben es sich doch auch selbst ausgesucht. Lebe tugendhaft und rebelliere nicht töricht gegen das Geschenk der gegebenen Welt, dann wirst du es im nächsten Leben so richtig schön haben!
Religiöse Vorschriften scheinen immer aus lauter Halbwahrheiten zu bestehen. Gewiss ist es wichtig, sein Leben nicht von Klagen und Sorgen bestimmen zu lassen, und es ist ebenso wertvoll, das Leben als Geschenk zu betrachten. Sämtliche Gegebenheiten jedoch fatalistisch hinzunehmen, zeugt von nichts anderem als von Obrigkeitshörigkeit und eigener Macht-, Mut- und Würdelosigkeit.
In derartigen, hierarchischen Weltbildern taucht auch immer dieses Lockmittel mit der Belohnung auf; so als müsste man sich alles erst hart erarbeiten, um es zu verdienen. Ist das Universum vielleicht eine Leistungsgesellschaft, die zur Selbsterhaltung die Menschen durch leere Versprechungen für sich arbeiten lässt?
Nein, etwas in mir wusste, dass hinter all diesen Abbildern, die nur das spiegelten, was ich bereits zu genüge kannte (nämlich das Machtproblem der Spezies Mensch) eine andere Wahrheit verborgen sein musste.
Dieses Etwas in meinem Inneren, das sich immer wieder leise aber beständig Gehör verschafft, um mich an meinen Ursprung zu erinnern, ist im Grunde genommen das, was mich am Leben erhält. Das, was mir Lebenskraft und Lebensmut und meinem Leben einen Sinn gibt.
Es trägt die Erinnerung, jenseits der Grenzen des Ichs Bestandteil eines höheren Ganzen zu sein. Unauslöschlich ist sie irgendwo in seinem Gedächtnismuster eingeprägt, und unaufhörlich strebt es zu dieser Erfahrung hin zurück.
Sie zeigt sich im Streben des Menschen nach ekstatischem Erleben, in einer Leidenschaft, in der er aufgeht und sich darin selbst verliert, oder in dem Drang, den Ursprung aller Dinge zu finden, mit der festen Zuversicht, dass die Antworten irgendwo existieren müssen, dass alles auf irgendeine Weise zusammenhängt und ein allumfassendes Prinzip dahintersteckt.
Sie heißt Religiosität und beschreibt die Bindungsenergie des Menschen zu seinem Ursprung. Einstein spricht von der kosmischen Religiosität, die im Gegensatz zu ihren primitiveren Vorformen vollkommen frei von Furcht und Opferhandlungen ist, keine Dogmen und Kirchen kennt und das Einheitliche und Holistische aller Dinge anstrebt. Das verstehe ich unter Spiritualität, das Sich-Selbst-Wahr-Nehmen in allen Dingen.
Diese Erfahrung, mit dem Göttlichen verbunden und mit dem Kosmos eins zu sein, ist ein Grundbedürfnis des Menschen. Und solche Momente des Verwobenseins sind immer von einem Gefühl grenzenloser Freiheit begleitet.