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Weltenbäume

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Wie in vielen anderen Kulturen nimmt auch in der nordeuropäischen Mythologie der Baum eine zentrale Rolle ein: Hier ist es die “Weltenesche” mit Namen Yggdrasil.
Von ihr wird gesagt, dass ihr Stamm durch den Mittelpunkt von Midgard führt (=Mittelerde), ihre Wurzeln bis nach Niflheim reichen (=Nebelraum) und ihre Krone den Asgard überragt (=Götterwelt, Wohnort der Asen). Der Baum fasst also die drei Welten von Himmel, Menschenwelt und Unterwelt in sich zusammen.

Es heißt, unter seinen Wurzeln leben die drei Nornen, die Schicksalsgöttinnen, die die Geheimnisse des Universums bewahren und das Buch des Schicksals schreiben. Sie sollen älter sein als alle anderen Götter, weswegen nicht nur die Menschen, sondern auch die Götter ihnen hilflos ausgeliefert sind.
Ihre Namen sind Urd (die Schöpferin, die den Lebensfaden spinnt), Verdandi (die Erhalterin, die den Lebensfaden misst) und Skuld (die Zerstörerin, die den Lebensfaden durchtrennt).
Sie sind die “weird sisters”, die drei Aspekte der Göttin Wyrd (Wurd, Urd). Die Begriffe „Wort“ bzw. „word“ lassen sich davon ableiten. Die Göttin und ihr Wort (gemeint ist ihr Gesetz) sind also eng miteinander verknüpft. Heute würden wir vielleicht von „Naturgesetz“ sprechen, obgleich für uns darin nicht mehr diese ungeheure Macht mitschwingt, die darin einst vorhanden war.

Der Baum ist also die Verbindung zum Wissen über das Schicksal und die Geheimnisse der Welt.
Odin (der Allvater der germanischen Mythologie) wollte hinter das Geheimnis der Großen Göttin gelangen. Sie allein besaß das Wissen um die Schöpferkraft, die er sich als männlicher Vertreter des Göttergeschlechts zu eigen machen musste, bevor er die volle Göttlichkeit erlangen konnte.
So gab er sich selbst der Weltenesche als Opfer hin, vergoss sein Blut und erlebte Tod und Auferstehung. So wurde ihm auch die Beherrschung der Runen zuteil – die magischen Kräfte der heiligen Worte, die erschaffen können (vgl. “Am Anfang war das Wort”).

Von der Weltenesche heißt es auch, sie beziehe ihre Kraft aus drei Quellen: a) dem Brunnen der Urd, b) dem Brunnen des Mimir und c) dem Brunnen des Nidhögg. A ist die Schicksalsquelle, zu der die Asen (=Götter) reisten, um Gericht abzuhalten. B ist die Weisheitsquelle, aus der Odin trinken durfte, nachdem er ein Auge gepfändet hatte. C ist der Aufenthaltsort des Totendrachen.

„Yggr“ heißt „der Schreckliche“, ein Beiname des Odin; „drasil“ bedeutet „Träger“. Der Baum ist also ein Beförderungsmittel, das die Götter und Seelen zwischen den Welten hin- und herträgt. Er bildet eine Brücke zwischen Himmel, Erde und Unterwelt, eine Verbindungsachse zwischen Diesseits und Jenseits dar. Der Fachterminus für eine solche Achse ist “Axis mundi”.
Interessant ist, dass wie Odin auch Krishna und Jesus in der vertikalen Achse hingen und ihr Opferblut hingaben, um zwischen der göttlichen und irdischen Welt zu vermitteln.
Das Martyrium ist ein wesentliches Element in den Mythen des Menschen und daher auch Bestandteil vieler Religionen – und meist eng mit dem Baum verknüpft.

Auch die Druiden, die keltischen Priester der Heiligen Eichen, bezogen ihre Erkenntnisse aus den Bäumen, indem sie Orakel betrieben (Phyllomantie) oder zu Dryaden (=griechische Baumwesen) wurden, indem sie mit ihrem Bewusstsein mit den Bäumen verschmolzen.

Dass der Baum in unserer Geschichte Mittelpunkt der religiösen Anschauung war, mag für uns heute befremdlich sein. Vor zweitausend Jahren jedoch waren die überwiegenden Teile Europas noch von riesigen Urwäldern bedeckt. Es ist überliefert, dass Caesar bei seiner Ankunft am Rhein die Germanen befragte, wie weit der Wald denn noch reiche. Sie antworteten, sie hätten ihn zwei Monate lang durchzogen, sein Ende aber nicht erreicht.

Der Wald bildete damals die grundlegende Erfahrungsebene des Menschen. Daher war die Beziehung zu den Bäumen auch sehr intensiv. Sie waren Mitgeschöpfe. Man gab ihnen Namen, man unterhielt sich mit ihnen, man suchte Rat bei ihnen, ja man verheiratete sie sogar untereinander. Einen Baum außer in der Not zu fällen, brachte die Todesstrafe ein. Wenn ein Mensch einem lebenden Baum durch Abschälen seiner Rinde eine Wunde zufügte, dann musste sie nach germanischem Gesetz mit den Eingeweiden des Täters verbunden werden.

Die Tempel der Germanen waren Heilige Haine, die jeweils einer Gottheit geweiht waren. Die Götter thronten in Quellen, Steinen oder Bäumen, und man brachte ihnen auf Opfersteinen Opfer dar. Pferdeköpfe galten als größtes und wirksamstes Opfer. Man besprengte sich selbst, das Vieh und das Land mit ihrem Blut, dem kraftstrotzenden und segnenden Lebenssaft. (Pferdeköpfe am Dachfirst erinnern noch an den alten Brauch.)

Die Kirche bemühte sich zunehmend, den heidnischen Glauben auszurotten. Im Jahre 789 wurde z.B. folgende Verordnung erlassen:
Wegen der Bäume oder Felsen oder Quellen, wo einige törichte Menschen Lichter anzünden oder andere Andachten verrichten, verordnen wir mit allem Nachdrucke, dass dieser sehr böse und vor Gott verwerfliche Gebrauch, wo man ihn immer bemerkt, abgeschafft und vertilgt werden soll.
Man verhängte Geldstrafen und man zerstörte die Heiligen Stätten.
772 zerstörte Karl der Große einen Irminsul, der das zentrale Heiligtum der Sachsen war. Der Irminsul ist eine Säule, die dem Kriegsgott Irmin geweiht ist und die Weltenesche Yggdrasil nachbildet.
Auf diese Weise wurden die Einsichten des Menschen in die Zusammenhänge der Natur systematisch ausgerottet.

Aus der jüdischen Tradition stammt der kabbalistische Lebensbaum. Er enthält alle Faktoren, Prinzipien und Elemente, mit denen Gott die Welt geschaffen hat. Dabei ist der Baum nicht Gott selbst, aber alle seine Kräfte zusammengenommen. Es heißt, Gott habe die Welt mit Hilfe von Zahlen und Buchstaben hervorgebracht, hebr. Sephirot. Die zehn göttlichen Äußerungen (vgl. “Am Anfang war das Wort”) bilden die zehn Urkräfte, Weltenorte oder Sternenorte. Der Baum ist also Symbol für das Welt-all (=alle Welten).
Hebr. “QBL” bedeutet “von Mund zu Ohr”, bezeichnet also eine mündliche Überlieferung. Zum ersten Mal fixiert wurde sie im 13. Jahrhundert. Ihr erstes Buch “Sefer ha-Bahir” (=Buch des Leuchtenden) erschien um 1200. Ihr Hauptbuch “Sefer ha-Sohar” (=Buch der Herrlichkeit) stammt etwa aus 1280.
Die Kabbalah weist Parallelen zur christlichen Gnosis auf, die wiederum stark vom Zoroastrismus beeinflusst worden ist.
So sprach Zarathustra (ca. 600 v. Chr.) schon in der Avesta (die heilige Schrift der Perser) von einem mehrstufigen Kosmos und stellte dabei Beziehungen zur Pflanzenevolution dar:
Auf der ersten Stufe befinden sich die Urbilder der Pflanzen, geschaffen von Ahura Mazda, dem Weltenschöpfer [Urpflanze: HVAPI].
Auf der mittleren Stufe lassen geistige Wesenheiten (Engel, Erzengel) die Urbilder in einem ätherischen Bereich, dem Lichtraum, heranreifen.
Auf der untersten Stufe schließlich werden sie manifest, fassen Wurzeln und nehmen eine materielle Gestalt an.
Die Idee einer Pflanze wird dabei also über mehrere Stufen „heruntertransformiert“:

Kether / Ahura Mazda / Urbild

Yesod / Engel / Lichtraum

Malkuth / Erde / Wurzel

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